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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Befinden erkundigen wollten, trafen beständig die rührende Gruppe unter der Linde an, Mama auf der Bank, mich im bequemen Lehnstuhl, mit Decken eingehüllt, und den Herrn Wollmeyer, im grauen Hausjackett und großen Panamahut mit schwarzem Bande, uns gegenüber.

Man nahm das so hin, wie es hingenommen werden mußte, es war ja sein Garten; man sprach auch mit ihm und ließ sich die ersten Rosen und ungeheure Fliedersträuße von ihm schenken man pries uns glücklich, einen so liebenswürdigen Hauswirt zu haben.

Mama allein schien unruhig und ihre Augen hingen mit einem so fragenden gespannten Ausdruck an den Gesichtern unserer Freunde, als wollte sie ausrufen. „Was denkt Ihr denn? Ihr glaubt doch nicht – um Gotteswillen!“

Mir ist gar vieles erst später klar geworden, damals war ich zu matt zum Denken, zu Folgerungen aus all den kleinen Vorkommnissen; ich ärgerte mich nur immer wieder über die Vertraulichkeit des redseligen Mannes, dessen Aufmerksamkeite so grob waren wie Kanonenschläge. Ich wunderte mich, daß Mama dieselben in einer hilflosen Ergebenheit über sich ergehen ließ, ohne sie zurückzuweisen, und sah sie groß und verständnislos an. Sie wich dann meinen Augen aus, und eine feine Röte stieg in ihr blasses Gesicht. Ach, wenn ich geahnt hätte, weshalb!

Sie war so gut gegen mich, zu gut und aufmerksam. Alle meine Lieblingswünsche erfüllte sie – man kennt ja die tausenderlei kleinen Launen, die ein leidender Mensch hat. Alles geschah für mich, alles, und ich fragte nicht: Mama, womit bestreitest Du eigentlich die vermehrten Ausgaben? Und als ich endlich einmal etwas Aehnliches sagte, da antwortete sie: „Du weißt doch, Onkel Herbert schickte Geld, und außerdem – denke, was wir ersparen an all Deinen teuren Unterrichtsstunden.“

Ich hatte sehr wenig finanziellen Ueberblick. Die Ersparnisse an dem höchst billigen Unterricht, von dem die teuersten, die Klavier-Stunden, zwei Mark kosteten – Englisch gab mir Mama – diese Ersparnisse beruhigten mich, so daß ich mit größtem Behagen alles genoß, was Mama mir bot.

Der Sanitätsrat kam jetzt täglich zu uns, ich begriff nicht, warum.

„Sie thun, Herr Doktor, als wäre ich schwer krank,“ bemerkte ich eines Tages ärgerlich. „Wir freuen uns ja sehr, wenn Sie kommen, aber Mama wird sich schließlich einbilden, ich sei am Sterben, und sich schrecklich ängstigen.“

„Gott bewahre, Fräulein Anneliese! Ich kann aber auch fortbleiben,“ antwortete er scheinbar gekränkt. „Ich komme übriges so wie so ins Haus, da drängt’s mich denn, nach Ihnen zu schauen.“

„So? Wer ist denn krank bei Wollmeyer?“

„I, der Herr Stadtrat höchstselbst, aber nichts von Bedeutung; ein bissel Rheuma, ein bissel Gicht – das ist alles!“ Damit ging er.

Es war ein regnerischer Junitag, an dem dies Gespräch stattfand, und wir mußten natürlich im Zimmer bleiben. Ich weiß nicht mehr, ob mich das Wetter so unruhig machte oder was eigentlich auf meine Stimmung drückte – ich fühlte, wie mir alle Nerven zitterten, und konnte nur mit Mühe meine Thränen zurückhalten. Im Nebenzimmer saß die Komtesse bei meiner Mutter; ihre laute Stimme klang wie eine Trompete bis zu mir herüber.

„Du wirst Dich krank sorgen, Len’, sei doch vernünftig!“ sagte sie. „Wie kannst Du Dir Vorwürfe darüber machen, daß Du noch einmal an Deinen Bruder geschrieben hast! Was hat er das übel zu nehmen! Kranksein ist ein kostspielig Ding, das wird er auch wissen, und – es kann ja alles wieder besser werden.“

Was meine Mutter antwortete, konnte ich nicht verstehen.

„Wie? Ja, das weiß Gott, Len’, Du fragst zu viel. Lasse den Kopf nicht sinken, hörst Du – der alte Gott lebt noch, er hat immer geholfen, er hilft auch diesmal.“

Da lachte Mama. Es war ein schneidendes höhnisches Lachen, wie mit Messerspitzen fuhr es mir in die wehe Brust.

„Ich will versuchen, es zu glauben, Komteß,“ sagte sie laut, „ich will hintreten und ihn bitten, mit gefalteten Händen will ich schreien Lieber Gott, hörst Du, ich hab’ ein krankes Kind, ein Kind, das alles ist, was Du mir gelassen hast, und dies Kind soll Luftveränderung haben zu seiner Rettung – gieb mir das Geld dazu, denn ich habe keins, nicht ein paar Dreier hab’ ich, und keine Seele, die mir helfen könnte! Hörst Du, gieb mir das Geld, oder thu’ ein Wunder!‘ – Vielleicht hilft’s, Komteß!“

Ich fühlte während dieses höhnischen verzweifelten Ausbruchs, wie mir eine Eiseskälte zum Herzen emporstieg, dann eine glühende Hitze – rote Lichter und Funken tanzten vor meinen Augen. Ich wollte aufstehen und rufen, aber ich war nicht Herr meiner schweren Glieder, meiner Stimme. Ich hörte nicht mehr, was scheltend die Komteß sprach, ich weiß auch nicht mehr, was ich dachte in jener fürchterlichen Stunde, die ich allein und halb ohnmächtig zubrachte, nur daß es entsetzlich war, weiß ich noch. Als meine Mutter endlich mit mühsam beherrschter Miene zu mir trat, fand sie mich fiebernd und verwirrt, unfähig, ihr Antwort zu geben auf irgend etwas, und schwerkrank.

Ich weiß nichts von der nächsten Zeit. Als ich wieder zur Besinnung kam, saß Mama an meinem Bette, ein müdes liebes Lächeln in dem abgezehrten Antlitz. Sie bog sich zu mir herunter und küßte mich.

„Ganz still, Anneliese, ganz still – Du darfst nicht viel sprechen.“

Ich sah mühsam umher, ich mußte mich erst auf alles besinnen. „Mama, wie lange war ich krank?“ Mit Entsetzen überkam mich plötzlich die Erinnerung an ihre bedrängte Lage. Ob sie wohl Hilfe gefunden hatte?

„Drei Wochen, Anneliese, aber frage nicht – werde nur wieder gesund!“

„Mama, wer half Dir denn?“

„Wieso?“

„O, Mama, wer gab Dir Geld?“

„Ich verstehe nicht, Kind, ängstige Dich nicht! Nimm an, Onkel Herbert schickte mir wieder; wir sind außer Sorge, Anneliese, ganz außer Sorge.“

Ich konnte nicht klar genug denken, um die Unwahrheit dieser Worte zu erkennen.

„Schlafe wieder ein, schlafe! Wenn Du wohl genug bist, reisen wir, Anneliese.“

„Wohin?“

„Irgendwohin, wo Du gesund werden sollst. Schlafe, Kind!“

Und ich schlief, ich schlief zuweilen tagelang, ich schlief mich zu Kräften und aß mich zu Kräften. Die Genesung kam mit Macht unter der treuen Pflege der Mutter. Sie war so durchsichtig bleich, sie ging so müde, und das eigentümliche wehe Lächeln wollte gar nicht mehr von ihrem Gesicht weichen. Sie sah aus wie eine Märtyrerin.

„Mama, hast Du Kummer?“

„Nein, mein Herz. Du wirst gesund – weiter braucht es nichts!“

„Du hast Dich bei meiner Pflege zu sehr angestrengt,“ klagte ich.

„Nein, Herz! Die Base, siehst Du, die Base hat Dich fast ganz allein gepflegt, Du mußt Dich sehr bei ihr bedanken – und auch bei Herrn Wollmeyer; sie habe beide viel gethan. Ja, ja, Anneliese, Du hast seine teuersten Weine getrunken, und schau’, die herrliche Blumen!“

„Ich werde mich bedanken, Mama, die Blumen soll er mir jedoch nicht mehr schicken, ich mag sie nicht riechen. Aber die Base soll mich besuchen.“ Und so beruhigte ich mich und merkte nicht, was Mama gethan, und ging unvorbereitet einer furchtbaren Entdeckung entgegen.


Es war an einem warmen Juliabend, kurz vor dem Tage, der für unsere Abreise nach St. Moritz bestimmt war, dessen Luft der Sanitätsrat mir verordnet hatte. Die Schneiderin hatte mich den ganzen Tag mit Anprobieren gepeinigt, Mama war darauf bedacht gewesen, für sich und mich eine einfache aber sehr nette Reisegarderobe anfertigen zu lassen, auch sonst waren alle Vorbereitungen getroffen worden, und was noch fehlte an jenen kleinen praktischen Dingen, die das Reisen so sehr erleichtern, sollte in Frankfurt am Main erstanden werden. In Westenberg hätte man vielleicht eine Botanisiertrommel zu kaufen bekommen, aber keine Umhängetasche, und eine solche gehörte notwendig dazu, das fand auch Mama. Und sie konnte ja kaufen, Onkel Herbert hatte ihr allem Anscheine nach reichlich Geld geschickt; er sollte, wie Mama mir erzählte, eine sehr vermögende Frau geheiratet haben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_631.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2022)