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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

sich um das Land, wo die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, abgemüht hatten und wie vielen Lyrikern beim Preise des Laubes, welches das Haupt des Musengottes schmückt, die Saiten zersprungen waren. Alles umsonst!

Ich füge hinzu, daß diejenigen, welche in diesen Augenblicksbildern auftraten, durchweg Reisende erster Klasse waren.

Wenn es einem in Anbetracht solcher Erfahrungen mitunter vorkommt, als wenn diese sammetgepolsterten Abteilungen vorzugsweise von dem Protzentum der Halbbildung in Beschlag genommen würden, so möchte dieser Eindruck noch durch die Beobachtung der Sitten verstärkt werden, die sich hier nur allzuhäufig breit machen. Endlosen Stoff verwöchten Schaffner und Bahnbedienstete über die seltsamsten Auftritte beizubringen, die sich hier zwischen Reisenden abspielen. Da giebt es Streitigkeiten wegen des Belegens der Plätze, wegen Fensteröffnens und dergleichen, die in der Form, in welcher sie geführt werden, meistens der Bildung weder des einen noch des anderen Teils Ehre machen. Nicht selten kommt jemand ganz schuldlos dazu, daß ihm eine Stunde, von der er sich gerade recht viel Schönes versprochen hatte, durch seine verehrten Mitmenschen verbittert wird. Ein Beispiel.

Ich steige an einem der schönsten Schweizer Seen, längs dessen die Bahn hinführt, ein, und zwar im letzten Augenblick, bevor der Zug abgeht, vom Schaffner gewissermaßen in den Wagen hineingeschoben. Der Schaffner entfernt sich alsbald wieder. Die Insassen der Abteilung sind ein Herr und eine Dame. Sämtlicher Raum oben und unten ist von ihnen mit Hutschachteln, Körbchen und Taschen belegt. Ich bleibe stehen in der Erwartung, daß man mir einen Platz freimachen werde. Weder Herr noch Dame rühren sich. Endlich beseitige ich mit der Bitte um Entschuldigung eine Tasche, und lege sie auf einen Koffer, der einen der Sitze einnimmt. Nach wenigen Augenblicken entspinnt sich folgendes Gespräch:

Der Herr: „Mit welchem Rechte berühren Sie einen Gegenstand, welcher mir gehört?“

Ich: „Das Sachverhältnis ist klar. Ich besitze Anspruch auf einen Sitzplatz. Ihr Gepäck verhindert mich, einen solchen einzunehmen. Sie treffen keine Veranstaltung, Ihre unrechtmäßige Inanspruchnahme des Raumes hier einzuschränken. Demnach bleibt nur die Selbsthilfe übrig.“

Der Herr: „Das war nicht korrekt von Ihnen. Sie hätten den Schaffner rufen sollen, der mußte Jhnen Platz schaffen.“

Ich: „Der Schaffner läßt sich vor der nächsten Station, zu welcher wir nahezu eine halbe Stunde zu fahren haben, nicht mehr sehen.“

Der Herr. „Es war inkorrekt.“

Ich: „Jedenfalls nicht mehr als Ihr vorhergehendes Verhalten.“

Nun entstand eine Pause, während welcher die beiden Reisenden mich mit ingrimmigen Blicken maßen, während ich die meinigen der blauen Wasserfläche zuwandte, über welcher in blendender Pracht die Eisfelder glänzten. Aber ich hatte nicht mehr die Freude daran wie früher. Die flüchtige Stunde war mir durch den geschilderten Auftritt getrübt, nicht etwa, weil mich das Treiben dieser Menschen persönlich berührt hätte, sondern durch den Gedanken, daß in diesen Kreisen der Gesellschaft solche Denkungsweise überhaupt möglich ist.

Es kam aber noch anders. Nach einer Weile folgte Fortsetzung des Gespräches.

Die Dame: „Wie kommt mein Mann dazu, sich von Ihnen Unterweisung in der guten Lebensart geben zu lassen?“

Ich: „Wenn der Vater Ihres Herrn Gemahls die Erziehung seines Sohnes vernachlässigt hat, so kann es diesen kaum in Verwunderung setzen, wenn unter Umständen von anderer Seite nachgeholfen wird.“

Diese Bemerkung veranlaßte eine Reihe von Schimpfworten, die dem Gehege der Zähne meines holdseligen Gegenübers entflohen. Ich erwiderte, daß ich die Kunst des Insultierens nicht verstände und den Zwischenfall als geschlossen erachte. Und dabei blieb es, obwohl es noch eine Weile auf mich herabhagelte. Die schöne Stunde der Fahrt längs des Sees aber, auf die ich mich gefreut hatte, war gründlich verdorben.

In den meisten Fällen, wo man zum Zeugen solcher Reiseunarten wird, kann ja von persönlicher Kränkung nicht die Rede sein, und doch fühlt man sich im Innersten empört. Wer würde beispielsweise, obwohl ihn die Sache als Person gar nicht berührt, nicht eine Anwandlung des Unwillens empfinden, wenn er sieht, wie Leute der sogenannteu gebildeten Stände im Gastzimmer aufliegende Zeitungsblätter, von deren Inhalt ein von tagelanger Wanderung im einsamen Hochgebirge zurückgekehrter Reisender erwartungsvoll Kenntnis zu nehmen wünscht, ohne weiteres auf ihr Zimmer mitnehmen oder auch ganz behalten? Wer ärgert sich nicht darüber, wenn elegante Herren Ballen von Edelweiß und anderen schönen Alpenblumen, die sie kaum zu schleppen vermögen, von einem Ausfluge mit ins Hotel bringen? Wenige Tage später liegt ein großer Teil dieser Blumen zertreten draußen im Staub der Straße.

Alle diese scheinbaren Kleinigkeiten gehören mit zu dem modernen Zuge der Gesellschaft, sich um andere so wenig wie nur möglich zu bekümmern. Und dieser Zug tritt auf Reisen mit besonderer Stärke hervor. Erwähnenswert ist auch das, was ein nicht geringer Teil von Reisenden sich selbst anthut. Statt auf der Reise, wie man es vor Jahrzehnten zu halten gewohnt war, Genuß und Anregung zu suchen, reisen jetzt viele nur, um anzukommen. Um sich die Fahrt selbst so langweilig als möglich zu machen, pflegen solche, die ihrer persönlichen Würde durch Steifheit Ausdruck zu geben vermeinen, harmlose Gespräche so gut wie vollständig abzulehnen. Vor wenigen Jahrzehnten noch war der Ton zwischen Reisenden ein anderer, gemütlicherer. Gerne wurden flüchtige Bekanntschaften angeknüpft, welche zu nichts verpflichteten und man ging in dem Gefühl auseinander, den Dingen, von welchen die Menschen bewegt werden, wieder irgend eine neue Seite abgewonnen zu haben. Das ist heutzutage schon viel seltener geworden In jene vergangenen Jahrzehnte ragten eben noch die Nachwirkungen aus der guten alten Zeit der Postwagen und Landkutschen herein, während unser Geschlecht sich in seiner Empfindungsweise mehr und mehr dem rücksichtslosen Getriebe einer Beförderung durch Maschinen anpaßt. Darum lernen die heutigen Reisenden verhältnismäßig wenig über die Menschen. Mit unbekannten Reisegenossen kommen sie meist nicht viel, noch weniger aber mit den Einheimischen der von ihnen durchreisten Länder in Berührung, Sie erinnern an jene Koffer, welche mit einer Menge von Hotelmarken beklebt sind.

Eine Einrichtung, welcher an und für sich die Nützlichkeit nicht abzusprechen ist, trägt hierzu bei. Ich meine die sogenannten „Zusammenstellbaren Rundreisehefte“. Da wird um billigen Preis das Recht erkauft, so und so viele hundert Kilometer Eisenbahn fahren zu dürfen. In vielen Fällen wäre etwas weniger mehr gewesen. Aber da wird den Bahnverwaltungen kein Kilometer geschenkt. Die Schienen müssen abgefahren werden.

Eine weitere Einrichtung, welche geradezu zur Verblödung des ganzen Reisewesens beiträgt, sind gewisse Coupons, die von Cook’s ticket office, einer englischen Unternehmung, ausgegeben werden. Sie sind von verschiedener Farbe und bedeuten je nach dieser die Fahrkarte auf der Eisenbahn für eine bestimmte Strecke oder Wohnung, Frühstück, Mittag- oder Abendessen in bestimmten Gasthöfen, mit welchen jenes Reisebureau in Verbindung steht. Diese „Vereinfachung“ des Reisewesens wird vornehmlich von Engländern benutzt. Es wird ihnen dadurch ermöglicht, zu reisen, ohne irgend ein Wort von einer fremden Sprache zu verstehen, zu speisen, ohne von der landesüblichen Lebensweise, von der Verschiedenheit der Gerichte und der Erzeugnisse des Bodens irgend welche Anschauung zu gewinnen, weil eben jenes Bureau in seinen Verträgen die von den Auftraggebern gewünschte Bewirtung und Abfütterung zur Bedingung macht. Der Gehirnaufwand, den das Reisen in fremden Ländern erfordert, wird durch diese schöne Erfindung auf das denkbar geringste Maß herabgesetzt.

Es ist eine unleugbare Thatsache, daß unendlich viel Schönes, das in einiger Entfernung von den durch die Eisenschienen vorgezeichneten Linien der hastigen Rundreise liegt, abseits gelassen wird, weil man nicht einen halben Tag „opfern“ kann, sondern von Anschluß zu Anschluß eilt - und leider ebenso unleugbar die weitere, daß manche sehr merkwürdige Oertlichkeit, zu welcher keine Eisenbahn hinführt, nicht etwa unmittelbar wegen Mangels einer solchen vernachlässigt, sondern deshalb nicht besucht wird, weil man sich denkt, daß eine Eisenbahn dorthin führen würde, wenn der Ort in Wirklichkeit ein beachtenswertes Wanderziel böte. Angesichts solcher Thorheiten und Gebrechen in unserem neuzeitlichen Reisewesen thut man gut, sich auf die guten Gepflogenheiten früherer Tage zu besinnen und dafür Sorge zu tragen, daß der bildende und anregende Wert des Reisens nicht gänzlich zu nichte werde.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_635.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2023)