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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


wenn einmal gereist sein muß, Schweden und Norwegen diesem Italien bei weitem vorziehen“

„Man könnte ja das eine thun und das andere nicht lassen,“ flüsterte er und suchte, indem er sich zu mir herunterbog, einen Blick zu erhaschen.

„Ich habe weder Aussichten auf das eine, noch das andere und bin vorläufig mit dem melancholischen Reiz meiner lieben Mark völlig zufrieden,“ schloß ich ärgerlich. Die Tochter des preußische Offiziers regte sich in mir. „Die Mark ist meine Heimat, ist ein Teil meines Vaterlandes, dieses großen herrlichen Preußen, und wenn jemand sagt, er begreife nicht, wie er wieder in seinem Vaterlande leben könne, nachdem er fremde Schönheit geschaut, so thut er mir leid, denn er beweist mit diesem Ausspruch, daß er keine VaterlanDsliebe unb kein Heimatsgefühl besitzt. Er thäte Deutschland sicher einen Gefallen, wenn er fürder im Auslande leben wollte.“

Nun wird er dich wohl zufrieden lassen, dachte ich und setzte mich gerade, im Gefühl, ihm einen gründlichen Abfall bereitet zu haben.

„Sie sind hinreißend, Anneliese,“ klang es aber schon wieder an meinem Ohr, „wirklich bezaubernd in Ihrem jugendlichen Patriotismus. Ich stimme also mit ein in Ihren Ruf: es lebe Deutschland, es lebe Preußen, es lebe die Mark, die Wiege Preußens! Und noch mehr – ich glaube fast, ich würde diese Mark lieben können, wenn Sie –“ und wiederum bog er sich zu mir herunter, – „wenn man mit Ihnen –“

„Herr von Brankwitz, Sie sind ein miserabler Kutscher, wollen Sie umwerfen?“ rief ich, und im nämlichen Augenblick hatte ich in die Zügel gegriffen und das Tier links geleitet, wir wären sonst unfehlbar an eine Holzbeuge angefahren. „Ein Kutscher soll nicht nach rechts oder links sehen, sondern einfach vor sich auf den Weg,“ setzte ich verächtlich hinzu.

Er war verlegen, soweit ein Mann seines Schlages verlegen werden kann. „In Ihrer Nähe ist eine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen,“ verteidigte er sich. „Ach, Sie glauben nicht, Anneliese –“

„Bitte, geben Sie mir doch einmal die Peitsche,“ bat ich. Ich nahm die lange Fahrpeitsche und hielt sie über den Rand des Wagens hinaus.

„Fahren Sie gern?“ flötete er.

„Versteh’ ich gar nicht.“

„Möchten Sie es lernen, Anneliese?“

„Nein!“

„Aber es ist ein herrliches Vergnügen, ein feuriges Tier selbst zu lenken, von ihm gezogen so dahin zu fliegen, so – so –“

„Sie sind wohl ein großer Fahrkünstler?“ fragte ich. „Na, da zeigen Sie doch ’mal, was Sie können!“ Und damit gab ich in meinem Aerger dem ruhig dahinschreitenden ahnungslosen Tier einen orbentlichen Hieb, daß es, rasend ausschlagend, in einen heftigen Galopp verfiel, der zweifellos Aehnlichkeit mit einem richtigen Durchgehen hatte und den leichten Wagen im Sturm mit sich fortriß, so daß er jeden Augenblick umzustürzen drohte. Und Brankwitz, der von dem heftigen Anspringen des Tieres fast vom Wagen geschleudert war, hatte Mühe und Not, den feurigen Ausreißer wieder zu kriegen; oder vielmehr, er kriegte ihn gar nicht, sondern das wohlerzogene schöne Pferd besann sich nach einigen Minuten eines Besseren und fiel in eine ruhigere Gangart.

„Aber, ich bitte Sie,“ keuchte er endlich, „wie konnten Sie – – das hätte fast ein Unglück gegeben auf diesem schlechten Wege! Sie sind eine schneidige kleine Dame, Anneliese, aber Sie spielen mit der Gefahr. Ich schösse mir eine Kugel vor den Kopf, wenn Sie, Anneliese –“

„O, ich werde noch ganz anderes thun, sobald Sie wagen, mich noch einmal Anneliese zu nennen, Herr von Brankwitz. Ich bin kein Kind mehr, merken Sie sich das! Sie sind mir gänzlich fremd und werden es immer bleiben, also bitte!“

Er biß sich auf die Lippen, und als wir bald darauf einen Feldweg erreichten, der auf Westenberg zuführte, lenkte er dort hinein, ohne ein Wort weiter zu reden. Stumm hielten wir nach einer Weile vor unserer Thür, und ohne seine dargebotene Hand anzunehmen, sprang ich vom Wagen und suchte meine Stube auf.

Ach, wäre die Base noch da! Wie kalt, wie öde war es, obgleich man geheizt hatte und obgleich ich sah, daß Mama hier gewesen. Sie hatte mir ein Briefchen auf den Tisch gelegt, es lautete:

„Beckers haben Frau Sellmann und Brankwitz noch in aller Eile zu der Hochzeit geladen. Du sollst mit den Herrschaften heute nachmittag bei Beckers und Tollens Besuch machen, richte Dich danach mit dem Anzug!“

Ich kam zu Tische mit der kecken Sorglosigkeit, die ich von Papa ererbt hatte unb wie sie Leuten eigen ist mit gutem Gewissen und furchtlosem Herzen, schon deshalb furchtlos, weil es die Gemeinheit der lieben Mitmenschen noch nicht begriffen hat, nicht ahnt. Den bist du los, hatte ich mir gesagt, und in dieser Ueberzeugung benahm ich mich den Geschwistern gegenüber unbefangen wie sonst, und da ich heute früh hervorragend unartig gegen Brankwitz gewesen war, so ließ ich das Essen vorübergehen, ohne ihm mit einer neuen Abweisung zu dienen, schon Mamas wegen. Leider verstand er das ganz falsch, wie ich bald darauf zu bemerken Gelegenheit hatte. Um vier Uhr nämlich mußte ich mit den Geschwistern zu den Besuchen. Frau Sellmann hatte ein halbes Dutzend Depeschen fortgeschickt, wegen ihrer Toilette, wegen Geschenken und Gott weiß, wegen was noch. Sie hatte sich entschieden vorgenommen, Westenberg zu imponieren. Jetzt schritt sie, auf hohen französischen Absätzen balancierend, über unser halsbrecherisches Pflaster, und das schwarze nach neuester Mode gefertigte Sammetkleid, der gleichfalls schwarze federgeschmückte riesige Rembrandthut, unter dem das goldblonde Titianhaar und das rosig weiße Gesicht wirkungsvoll zur Geltung kamen, sie machteu berechtigtes Aufsehen, wenigstens bei Frau Becker, die uns mit einem furchtbaren Wortschwall empfing.

Sie hätte sich nicht versagen können, einen so lieben Freund von Adalbert einzuladen, und überdem, an liebenswürdigen jungen Männern und an schönen Damen sei in einer kleinen Stadt ja immer Mangel, und sie danke Gott von Herzen, daß er zwei so reizende Menschen hergesandt. „Und wie geht’s Ihnen denn, Fräulein von Sternberg? Haben Sie sich mit Käthe Tollen verabredet wegen der Toilette? In New York haben sämtliche Brautjungfern gleiche Toilette, das sieht so reizend aus. Ich bedauere so ganz von Herzen, daß wir nicht das Vergnügen haben dürfen, Herrn Stadtrat Wollmeyer und seine junge Frau hier zu sehen, aber – wir haben gegenseitig nie Besuche gemacht. Nun, die Kinder müssen nachholen, was die Eltern versäumten! Sie wollen recht gesellig leben, die Zwei! Und Sie, Fräulein von Sternberg, haben sich unter den Schutz der Komtesse gestellt? Reizende Dame! Kennen Sie die Komtesse, Frau Sellmann? Ich habe nicht zuviel gesagt, nicht wahr? Sie wollen schon aufbrechen? Ah, Sie wollen auch bei Tollens einen Besuch machen – grüßen Sie mein Töchterchen von mir!“ Mir wirbelte der Kopf. Eine furchtbare Frau! Und ich fragte mich im stillen, warum Beckers eigentlich nicht mit meinem Stiefvater Verkehr gesucht hatten. Wäre ich weltkluger gewesen, so hätte ich natürlich herausgefunden, daß die übergroße Gleichheit der Gesinnungen sie gegenseitig abstieß – die Emporkömmlinge hatten sich erkannt! Ich war nur eingeladen worden als Freundin der Tollenschen Mädchen, als Brautjungfer, und Lores wegen ging ich hin, obgleich es mir widerstrebte, einer Hochzeit beizuwohnen, die in meinen Augen fast ebenso traurig war wie die meiner Mutter.

Bei Tollens wurden wir nicht angenommen; es herrschte in dem kleinen Hause eine wahre Grabesstille, nichts deutete auf den Vorabend eines solchen Festes. Nun bestand Frau Sellmann darauf, auch noch zur Komtesse zu gehe, die ich eigentlich allein besuchen wollte, und da ich die Geschwister nicht abschütteln konnte, so kamen wir zu Dreien in das Heim der alten Dame. Sie war zu Hause, saß auf ihrem Fenstertritt und heftete sich uralte Spitze auf ein uraltes graues seidenes Kleid, das sie morgen der Lore zu Ehren tragen wollte. Auch sie nahm nur Tollens wegen teil an der Feier.

„Freut nach sehr!“ begrüßte sie uns. „Nehmen Sie Platz, meine Herrschaften! Anneliese, heb’ die Schleife auf! Verzeihen Sie, ’s ist meine Wohnstube; das bessere Zimmer lasse ich für gewöhnlich nicht heizen.“ Ueber das volle Antlitz der Frau Sellmann huschte ein spöttisch mitleidiges Lächeln. Die Komtesse bemerkte es und sagte: „Ja, das versteht man heutzutage nicht mehr, meine liebe Frau Sellmann. Sie lassen wahrscheinlich täglich Ihre sämtlichen Zimmer erwärmen und die der Dienerschaft dazu. Wir von damals kennen noch nicht das Jagen nach Ueberfeinerung; zu meiner Zeit lebte die ganze Familie in einer Stube, natürlich den Hausherrn ausgenommen. Da saßen wir bei drei dünnen Kerzen und machten die feinsten Arbeiten, oder besserten Wäsche aus, und das war überall so, in unseren Kreisen wenigstens. Mein Vater war Minister, meine liebe Frau Sellmann,“ setzte sie hinzu, „und wir sind bei unserer Lebensweise gesund und froh gewesen. Sie lächeln? Glauben Sie, es sei mir deshalb eine Perle aus der Krone gefallen? Dem heutigen Protzentum gegenüber bleibt uns kein anderes Mittel der Unterscheidung als unsere alte Einfachheit„ in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_710.jpg&oldid=- (Version vom 25.8.2022)