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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Ich sprang empor. Eines Wortes war ich nicht mächtig, stumm wandte ich mich der Thür zu. Hätte ich geahnt, wie es in ihrer Seele aussah, welch furchtbare Marter sie litt, vielleicht wäre ich nicht so gegangen, so voll leidenschaftlichen Trotzes, so namenlos unglücklich, so fest davon überzeugt, daß meine Mutter mich nicht mehr liebe.

„Anneliese!“ Mein Stiefvater kam mir nach. „Treten Sie hier ein!“ Er schob mich am Arm in sein Schreibzimmer. „Sie sehen,“ begann er, „wie die Nachricht, daß Sie eine so vorteilhafte Partie aufgeben könnten, Ihre Mutter erschüttert hat. Sie sank wie leblos zusammen, als die Komtesse ihr unter den heftigsten Vorwürfen entgegentrat. Ich hoffe, alle Ihre nichtssagenden nackten Ausflüchte sind nunmehr beiseite gelegt.“

Ich antwortete keine Silbe, ich stand vor ihm, aber sah nach irgend einem Bilde an der Wand. Was sollte ich auch antworten? „Wir werden die Sache also sofort – –“ Er schritt zur Klingel. Da war ich mit einem Sprunge neben ihm und riß seine Hand zurück. „Ich habe Zeit bis morgen mittag, erinnern Sie sich!“

„Lächerlich!“ entfuhr es ihm. Nach einem Blick in mein Gesicht aber sagte er: „Meinetwegen, wenn Sie so kleinlich denken, und, bitte, die äußerste Rücksicht meiner Frau gegenüber! Sie sind kein Kind mehr, und ich kann Ihnen deshalb die Mitteilung machen, daß Sie Aussicht haben, nicht der einzige Verzug Ihrer Mutter zu bleiben, Sie werden ihre Liebe dereinst mit einem Geschwister teilen müssen, also, ich muß dringend um Schonung ihres mir jetzt doppelt teuren Lebens bitten.“

Ich preßte die Hände gegen das Gesicht vor Schreck und Scham und ging der Thür zu. „Also morgen mittag!“ rief er mir nach.

Wie ich hinuntergekommen bin, wie ich die nächsten Stunden zugebracht habe, dessen erinnere ich mich nicht mehr genau, aber das weiß ich, daß sie schwerer waren als alle die schweren, die ich durchlebt habe, daß sie aus dem Kinde mit einem Schlage das schwergeprüfte willensstarke Weib machten.


Droben war es jetzt ganz still. Es mochte neun Uhr sein, als ich endlich den Kopf hob und mit brennenden Augen in die Dunkelheit starrte wie eine Verzweifelte. Welche Macht hatte die Gemeinschaft der Ehe, wenn sie selbst die Mutterliebe auszulöschen vermochte! Und in diese Knechtschaft wollten sie mich stoßen, ich sollte im ewigen Kampf mit einem seichten gesinnungslosen Menschen mein Leben verbringen! Ein ewiges vergebliches Kämpfen, bis die Lebenskraft gebrochen sein würde, denn ich war nicht so fügsam, so leicht zu beeinflussen wie Mama. ich war ja, wie die Komtesse sagte, aus Trotz, Widerspruch und Leidenschaft zusammengesetzt.

Ausreißen! klang’s in mir. Was blieb noch anderes?

Ich hatte, am Fenster stehend, den Friedrich fortlaufen, den Sanitätsrat kommen und wieder gehen hören; dann war schließlich der Wagen doch noch vorgefahren, vielleicht um Herrn Wollmeyer zu Superinteudents, Frau Sellmann ins Theater zu bringen. Mama lag sicher ruhig zu Bette; sie hatte ihr Schlafmittel genommen – sie nahm so entsetzlich oft Chloral jetzt – um mich würde sich vor morgen mittag niemand kümmern. Dann aber kam man, mich aufzufordern, ich sollte mich „nett“ anziehen, und dann würde die Komödie in Scene gesetzt werden, und der – der – –

Ich schloß die Augen und stellte mir vor, daß diese wachsbleiche Männerhand mit den dünnen Fingern und den übertrieben langen Nägeln nach der meinen greifen, daß ich nicht das Recht haben würde, sie zornig zurückzuweisen, daß er neben mir gehen, daß er „Anneliese!“ flüstern würde, daß er mich mit diesen verletzenden Blicken ansehen dürfte, so viel er wollte . . .

Ich trat vom Fenster zurück, suchte nach meiner Briefmappe und nach Streichhölzern mit zitternden Fingern und angstvollem Herzklopfen. Ich wollte an Mama schreiben, einen Abschiedsbrief. Mama konnte mich entbehren, sie würde ja ein anderes Kind in ihren Armen halten, ein junges zartes Leben; sie würde es so in den Armen tragen, wie sie mich einst trug auf der kleinen Photographie, die immer Papas Schreibtisch zierte, die er sein Madonnenbild nannte – auf der ich kaum zu erkennen war vor Spitzen und Schleifen und auf der Mama so entzückend aussah, wie sie sich herunterbog zu mir und lächelte. Und da erfaßte mich ein wahnsinniger, ein eifersüchtiger Zorn; ich nahm das Bild und schleuderte es auf die Erde, und dann suchte ich die Glasscherben wieder zusammen und tastete nach der Photographie, die unter die Kommode gefallen war, und als ich sie endlich gefunden hatte, da drückte ich sie an mein Gesicht und begann leidenschaftlich zu schluchzen.

Dieser Ausbruch brachte mich zur Besinnung. Ich wollte ja fort und ruhig, besonnen sein, das war jetzt das Nötigste. Ich zündete Licht an und schrieb an die Komtesse, denn ich hatte mir überlegt, daß ein Brief von mir möglicherweise nicht in Mamas Hände gelangen könnte. Die Komtesse setzte ich von meinem Vorhaben in Kenntnis:

„Ich gehe zur Base, sie wird mich vorläufig aufnehmen, liebe Tante Komtesse: ich weiß nichts anderes im Augenblick und habe keine Zeit mehr, zu überlegen. Sag’ Du’s Mama und sag’ ihr auch, wenn sie mich zwingen wollen, Herrn von Brankwitz zu heiraten, dann laufe ich auch von der Base fort, aber so, daß mich niemand findet. Ich werde, mit Hilfe der Base, mir sobald als möglich ein Unterkommen suchen, wo ich Wollmeyer nicht mehr zur Last falle. Liebe Tante, ich thue, was Du mir geraten hast, ich sehe keinen andern Ausweg. Um eins bitte ich Dich flehentlich, gieb mir Nachricht, wie Mama meine Entfernung aufgenommen hat und ob sie gesund ist. – Versteh’ mich nicht falsch und behalte lieb Deine Anneliese!“ 

Dieses Schreiben verschloß ich, versah den Umschlag mit einer Briefmarke und beschloß, es auf dem Bahnhof in den Postkasten zu werfen, dann erhielt die Komtesse es morgen früh. Und ruhig stand ich auf und begann, nach meinem Schultäschchen zu suchen, denn etwas anderes, um ein paar nötige Gegenstände einzupacken, hatte ich nicht. Was ich mitnahm, war ein bißchen Wäsche, die Photographie Papas, ein Neues Testament, in dem von Papas Hand eingeschrieben stand: „Herr, Deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und Deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.“ Nie hatte ich den Trost, den solche Worte geben können, deutlicher empfunden.

Ich wußte, um zehneinhalb Uhr ging ein Zug nach Magdeburg zu; in Magdeburg würde ich den Anschluß nach Thüringen erfahren und morgen früh konnte ich bei der Base sein. Eine andere Zuflucht gab es vorläufig thatsächlich nicht, und ich hatte auch das Gefühl, als wäre sie die Einzige, die mich schützen könnte.

Nur dies Morgen nicht hier erleben! Das war’s, was zunächst geschehen mußte; dann weiter auf eigenen Füßen. Tausendmal lieber das knappste Brot, als –

Ich zog mein Jackett an, nahm Pelzmütze und Muff, hing die Tasche über den Arm und verließ das Haus. Dem unbändigen Gelächter nach, das aus der Dienerstube erscholl, hatt ich nicht zu befürchten, jemand im Hofe zu treffen. Mir begegnete auch niemand, auch auf dem ganzen weiten Weg von der Stadt nach dem Bahnhof traf ich keinen, der mich näher kannte; der eisige Wind hielt alles in den Stuben, und in Westenberg ging man überhaupt abends kaum mehr aus.

Den Hundertmarkschein der Base – ich mußte ihn schon benutzen – brauchte ich wenigsteus nicht an dem schlecht beleuchteten Schalter wechseln zu lassen; meine kleine Barschaft reichte zu einer Karte dritter Klasse bis Magdeburg. Ich fuhr dritter Klasse, weil ich nicht wußte, wann ich imstande sein würde, der alten Frau meine Schuld zurückzuzahlen. Ein junger Kassierer, der mich jedenfalls nicht kannte, gab mir die Fahrkarte, und ich hatte gottlob noch nicht lange auf dem windigen Bahnsteig gestanden, da kam der Zug angebraust.

Ich stieg in das nicht übermäßig besetzte Frauencoupé – ein schriller Pfiff, ein grelles Läuten und langsam setzte die Wagenreihe sich in Bewegung. Ich war in meinem Leben erst ein einziges Mal verreist gewesen, als kleines Kind nach Köln, der Heimat Mamas, und das bange Gefühl, das den Neuling im Reisen ergreift, überkam mich während der ersten Stunde mit vernichtender Gewalt. Ich hatte einen Fensterplatz und starrte in die schneehelle Nacht, in die der Zug hineinbrauste. Mit rasendem Gerassel ging’s durch die kleinen Bahnhöfe; in weiter Ferne blitzten Lichter von verschneiten Dörfern auf, oder zogen sich die schwarzen Striche der Kiefernwälder hin, dann wieder endlose unabsehbare Schneeflächen, auf denen der Dampf der Lokomotive einen Reigen gespensterhafter Figuren aufführte, und dazu das Pfeifen des Windes, der an der Wagenreihe entlang strich.

Neben mir faß schlafend ein junges Mädchen; sie hatte die Augen geschlossen und um ihren Mund spielte ein glückliches Lächeln. Sie hielt im Arm, fest an sich gepreßt, ein Paket, das ihr aber endlich bei einer Bewegung, die sie im Schlummer machte, entfiel.

Sie erwachte und sah, daß ich mich bückte und es ihr aufhob; sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_743.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2022)