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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


hatte man mir gesagt – und richtete Deine Bestellung aus. Len’, die sehr unruhig war, als ich kam, schien wunderlicherweise durch Deinen Geniestreich beschwichtigt zu werden; sie legte sich wie kraftlos in die Kissen zurück und faltete die Hände. Ich kann’s nicht beschwören, aber ich hab’ gehört, wie sie ,Gott sei Dank!‘ murmelte. Darum brauchst Du aber nicht zu denken, mein kleines Schaf, daß Du wirklich etwas Geniales ausgeführt hast! Len’ hatte sich wahrscheinlich nur vor der Scene gefürchtet, die unvermeidlich war, wärst Du geblieben. Ich sage auch, im Grunde hast Du recht, aber wie Sache hätte doch mehr comme il faut gemacht werden können! Mit Deinem Stiefvater, der plötzlich erschien, kam nun aber die Scene. Er war sehr aufgebracht, mein Kind. Ich habe schon viele zornige Männer in meinem Leben gesehen, aber ’s ist ein Unterschied; auch im Zorn kann man seine Haltung bewahren. Es giebt jedoch Menschen, die bei einer Kalamität sich benehmen wie die gereizten Stiere, brutal; sie trampeln nieder, was ihnen unter die Füße kommt, gleichviel, ob Freund oder Feind. Dein Stiefvater glaubte also, Deine Mutter habe Dir den Gedanken eingegeben, zur Base zu flüchten; Len’ that mir leid, und ich beeilte mich daher, das rote Tuch zu schwenken, nur seinen schnaubenden Zorn auf mich zu lenken. Ich sagte ganz kurz: ‚Sie irren sich, Len’ ist unschuldig, ich habe Anneliese zu der Reise veranlaßt!‘

Du weißt, Kind, ich fürchte mich nicht; Deiner Mutter halber will ich auch das Meiste nicht gehört haben, was er mir sagte, verstehst Du? Ich blieb ganz ruhig, denn zornigen Menschen gegenüber ist das Kühlbleiben stets ein Vorteil. Er kam auch sehr bald zu sich, fing an, um Entschuldigung zu bitten, mir die Hand zu küssen, sprach von ersterbender Verehrung für mich und seiner Sorge um Dich, da er doch Dein Vormund sei, und verfiel schließlich von selbst auf das einzig Richtige, nämlich Dich vorläufig in Gottesnamen in Deinem selbstgewählten Asyl zu belassen. Man wird hier also sagen, daß der Sanitätsrat Luftveränderung für Dich gewünscht habe. Als Wollmeyer gegangen war, um der Base zu telegraphieren, da packte mich Len’ am Mantelkragen und beschwor mich, Dich zu bitten, um Gotteswillen nichts zu unternehmen ohne ihr Wissen, bevor sie persönlich mit Dir gesprochen habe. Ich hoffe nun, daß Du keinerlei romantischen Gelüsten nachgiebst; es ist sehr bunt da draußen in der Welt, mein Kücken, und Du bist am wenigsten diejenige, die sich ohne weiteres zurechtfindet. Außerdem – hast Du Rücksichten auf die Gesundheit Deiner Mutter zu nehmen! Sie wird Dir übrigens schreiben. Wollmeyer wünschte den Grund Deiner Abneigung gegen Br. zu wissen. Ich sagte ihm nur, das sei doch schließlich nicht so unbegreiflich, übrigens ließen sich ja Sympathien und Antipathien nicht ergründen, kurz und gut, Du hättest erklärt, Du liebtest ihn nicht. Jedenfalls sah er das nicht ganz ein, denn er zuckte die Schultern. – So, nun hätte ich Dir nur noch zu sagen, mein liebes Kind, daß ich Dir wünsche, die Angelegenheit löse sich gut auf. Wenigstens ist ein Waffenstillstand erreicht.

Ich will sehr gern dann und wann Deine gute Mama besuchen, kann Dir aber nicht verhehlen, mein Kücken, daß ich mich um diese## Angelegenheit nicht mehr kümmern werde. Man soll nicht blasen, was einen nicht brennt, weißt Du. Josephine muß mir eben wieder Kamillenumschläge machen; Galle und Leber sind schlechte Bundesgenossen für ein Herz, das so geartet ist wie das meine, und dreiundsiebzig bin ich nun auch gewesen vor zwei Monaten. Ich gebe Dir den Rat, bleib’ Deinem Gefühle treu; bist zwar ein Tollkopf, hast aber richtige Gedanken. – Erkälte Dich nicht, da oben ist’s schon mehr Sibirien; hab’ mir ’mal auf einer Schlittenpartie in den Thüringer Bergen das rechte Ohr erfroren. Grüße die alte Base, sie soll gut aufpassen auf Dich. Es

umarmt Dich, meine liebe Anneliese,

Deine alte Freundin  
Henriette Komtesse von D.“ 

Der Brief brachte mir keinen Trost, konnte mir keinen bringen – im Gegenteil! Die Komtesse wollte nichts mehr von der Angelegenheit wissen, sie verließ mich; Wollmeyer hatte sie verletzt, die Sache aber nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben. Was gab’s da anderes, als allmählich mich vorzubereiten auf eine Flucht, eine ganz weite, in die Fremde? Aber als was? Durch Mama war ich aus meinen Studien gerissen worden, die ich allerdings auch meiner Krankheit wegen hätte aufgeben müssen – – Ja, als was? Ich hatte kein Examen gemacht, ach, und Lehrerin werden ist so schwer! Ich schüttle mich bei dem Gedanken heute noch ebenso wie damals – aber was half es? Ich wollte Musik weiter treiben, Musik war mir das liebste unter allen meinen Studien gewesen. Wenn man nur nicht so gänzlich ohne Kenntnis des Lebens geblieben wäre! So ohne eine einzige Seele da draußen, die mir die helfende Hand hätte bieten können! Außer der alten ungebildeten treuherzigen Frau besaß ich niemand.

Es waren dumpfe, trübe Tage, die nun folgten. Mein Koffer war gekommen, mit Kleidern und Wäsche, aber die Bücher hatte man mir nicht mitgesandt, ebensowenig meine Noten. Ich schrieb darum, erhielt aber keine Antwort. Ich war gewöhnt, mich geistig zu beschäftigen, ich las immer viel – Papas Bibliothek stand mir zur freien Verfügung, ich spielte gern und oft Klavier und vermißte das alles nun bitterlich. Frau Hübner brachte mir ihre „Bibliothek“, es waren ein paar Jahrgäuge einer illustrierten Zeitung und eine Sammlung Kalender. Die Base riet mir, beim Pfarrer einen Besuch zu machen, es seien da sicher Noten, Bücher und auch junge Mädchen. Ich fand die Frau Pastorin und ihre Töchter – ich glaube fünf ober sechs – in eifriger Näharbeit bis über die Ohren, die Kleinen strickten um die Wette, und sie sangen dazu. „Es ist ein’ Ros’ entsprungen.“

Da packte mich ein wunderliches Gefühl inmitten dieses trauten Familienkreises. Mit einem wahren Heißhunger nach Glück und Liebe kehrte ich heim, setzte mich mit meinem Teckel aufs Sofa und schluchzte vor Sehnsucht nach Papa. „Base, wäre doch das Fest vorüber! Im vorigen Jahre war’s noch schön, obgleich ich krank lag. Ich weiß nicht, wie ich sie überstehen soll, diese Tage, wo man wie sonst nie ein Verlangen hat nach einer Heimat, nach einem Menschen, den man liebt. Wären sie doch vorüber, diese Tage, wär’ doch alles vorüber!“

Von Mama kamen ab und zu Briefe, sehr gehalten und voller Redewendungen, die ich sonst an ihr nicht gekannt hatte. Sie machten mir den Eindruck, als müßten sie bei Herrn Wollmeyer die Censur passieren, bevor sie abgesandt wurden. Von Brankwitz kein Wort, aber ich wußte ja, es war nur ein Waffenstillstand.

Die Base suchte mich durch allerlei kleine Arbeiten, um die sie mich bat, von meinem trostlosen Grübeln abzulenken, aber ich war nicht imstande, meine Gedanken zu bannen; unablässig sann ich auf einen Ausweg zu meiner Rettung. Wie konnte ich in meinem Kummer auch Interesse haben für Frau Hübners Butterfässer, für ihre neugeborenen Kälber, für die Apfelschnitze, die man abends auf lange Fäden reihte, um sie zum Trocknen an den Ofen zu hängen, wo sie aussahen wie Guirlanden. Die paar Bücher, die mir Pfarrers geborgt, waren auch bald ausgelesen; mir neue zu holen, dazu verspürte ich keine Lust. Das Einzige, was mich aufrecht hielt, waren die einsamen Spaziergänge in der herrlichen ernsten Winterpracht. Stundenlang, jeden Tag lief ich umher mit dem Teckel zur Seite – ja, das war schön, das wirkte groß auf das Herz, das gab Mut! Aber dann, dann kam wieder halbe Tage lang das Schnurren des Spinnrads der Base, kamen die endlosen Abende, und die alte Frau und ich wußten uns nichts zu sagen; wir hatten jede dieselbe Not und alle unsere Gespräche gingen auf ein Thema hinaus – wie wird’s werden?

So kam Weihnachten heran. Ob ich wohl Nachricht von der Komtesse erhalten würde? Ich hatte ihr einmal geschrieben und ihr gedankt; eine Antwort war nicht erfolgt. Aber zu Weihnachten würde sie doch gewiß schreiben! In Mamas Briefen wurden weder sie noch andere Westenberger erwähnt – ich lebte wie in der Verbannung, immer eines Ueberfalles gewärtig.

Der Heilige Abend erschien, ehe ich’s gedacht. Bei Hübners drunten war der Gymnasiast angekommen; Herr und Frau Hübner hatten ihn abgeholt, und die heimkehrenden Pferde keuchten vor dem hochbepackten Schlitten. So viel Weihnachtspakete habe ich nie wieder auf einer Stelle gesehen. Der Postbote hatte einen Mann bei sich, der allerlei Kistchen in einer Kiepe auf dem Rücken trug, und ihm selbst hingen noch, mit einem Strick zusammengebunden, drei bis vier Stück über die Schulter. Ich sah dies alles beim Spazierengehen; gleich nach dem Mittagbrot war ich fortgewandert. Draußen in der freien Natur fühlte ich am wenigsten den Druck auf meiner Seele.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_760.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2022)