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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

die Nordmanns, die verstehen’s! Nun, und welches Regiment hat denn die Ehre, den tapferen Jüngling in seinen Reihen zu sehen?“

„Er steht in Halle, weil er zu gleicher Zeit noch ein paar Vorlesungen hören will über Strafrecht,“ sagte ich jetzt gelassen.

„Ah, da sind Sie ja auch, mein Fräulein! Sie erfreuten sich gleicherweise dieses interessanten Besuches? Hübscher Junge geworden, was? In Amerika wächst so etwas sich aus; ein paar fremdländische Manieren, ein bißchen fremdländisches Sprechen – und der famose Kerl ist fertig. Hat Ihnen wohl sehr in die Augen gestochen, wie?“

„O ja – es gefällt mir, daß er gekommen ist, um sein Jahr abzudienen.“

„Und die Rechte zu studieren! Damit will er vermutlich nach seiner Rückkehr den Amerikanern die Augen blenden. Freiwilliger und Student, über die Mitte der Zwanzig hinaus! Netter Gedanke!“ Er lachte wieder. „Hätt’ früher daran denken sollen.“

„Hat er auch! Er ist schou seit Jahren Doctor juris und würde gewiß schon früher herübergekommen sein, wenn er seinen Vater hätte verlassen können,“ antwortete ich.

„Ah, er scheint ja den verehrten Damen recht gründliche Märchen erzählt zu haben; Sie sind doch sonst nicht so leichtgläubig, Anneliese! Aber nun endlich zur Sache – wieviel will er von mir, oder hast Du die Freigebige gespielt und Deine paar Thaler weggeschenkt, Alte? Na, ’s wird schon so gewesen sein!“

„Ich glaub’ nicht, daß er gerad’ ans Schenken denkt,“ sagte sie mit eigentümlicher Betonung.

„Ach, er meint vielleicht, er habe ein Recht, zu fordern? Da könnte man ihm bald deutlich das Gegenteil beweisen. Uebrigens kommt es mir nicht auf ein paar hundert Mark an, wenn er’s auch nicht verdient hat durch sein Benehmen. Willst Du ihm das schreiben – meinetwegen! Aber bemerke gleich dabei, mit dem Reisegeld hierher soll er sparsam sein. ’n Morgen! – Anneliese, Sie sagen wohl nachher Ihrer Mutter Guten Tag?“

Er ging. Stumm sah ihm die Base nach. Als er die Thür hinter sich schloß, sank sie auf den nächsten Stuhl, und ihre zitternden Hände griffen ineinander. „O Gott, o Gott!“ jammerte sie leise. Ich trat zu ihr und strich ihr über das welke Gesicht; sie dauerte mich, die alte Frau, denn sie kämpfte zwischen der Liebe zu ihrem Neffen und der Liebe zu Mama und mir – des einen Sieg war des andern Verderben. Sie achtete auch nicht auf meine Liebkosungen; sie stand auf und ging in ihr Stübchen.

Welch eine Wirrnis um mich her – trotz des Winters schwüle Gewitterluft! Und dabei ein Treiben, als sei das Haus des Herrn Stadtrat Wollmeyer die Residenz eines kleinen Fürsten. Immerfort Besuche, immerfort Tischgäste. Wenn ich zu Mama kam, fand ich sie, einen Katalog vor sich auf dem Schreibtisch, Kotillontouren aussuchend oder Sträuße bestellend oder an die Schneiderin schreibend.

(Fortsetzung folgt.)

Der Thronwechsel in St. Petersburg.

Von Paul Lindenberg.


In der Isaaks-Kathedrale, dem hoheitsvollen Dome St. Petersburgs: es ist der 29. Oktober, der Jahrestag der Errettung Kaiser Alexanders III. bei der von Nihilisten herbeigeführten Katastrophe von Borki vor sechs Jahren; feierlicher Gesang durchhallt den herrlichen Raum, der Metropolit in goldstarrender Gewandung steht vor dem Allerheiligsten in stummem Gebet, in dem hochgewölbten Kuppelsaale blitzt und funkelt es im Dämmerlichte von den Uniformen der Gardeoffiziere, den Kreuzen und Sternen der Großwürdenträger, die sich hier dicht geschart versammelt haben, in den Nebenkapellen drängen sich buntgemischt alle Bevölkerungsschichten von Petersburg zusammen, viele der Andächtigen sind in die Knie gesunken, andere liegen langausgestreckt auf den steinernen Fliesen, sie mit der Stirn berührend, und immer inniger und sehnsüchtiger erschallt das „Herr, erbarme Dich!“ des Kirchenchores, immer heißer werden die Gebete „Gott, erhalte den Zaren!“ und durch die vielen hier Versammelten geht tief und warm die Bewegung der ernsten Stunde, in der vielleicht schon das Leben des kranken Herrschers im fernen Livadia erloschen ist.

Draußen leichtes Schneegestöber, auffallend schweigsam eilen die Menschen die breiten und weiten Straßen entlang, hier und da sich zu kleinen Gruppen stauend und die eben angeschlagenen, noch druckfeuchten Blätter an den Staatsgebäuden lesend, welche von dem Befinden des Kaisers Kunde geben: keine Hoffnung mehr, und manch’ schwielige Hand fährt über die Augen, so mancher Blick trübt sich, manch’ leises Aufschluchzen wird vernehmbar, menschliche Hilfe kann nichts mehr für den Zaren thun!

Ueberfüllt sind die Kirchen und Kapellen, zahllose mühselig verdiente Kopeken werden für Kerzen und Heiligenbilder ausgegeben, in das rastlose Hin und Her des öffenllichen Getriebes mischen sich aus den offenen Kirchenthüren, durch die der Schein hellen Kerzenschimmers dringt, die frommen Weisen der Vorsänger: „Herr, erbarme Dich! Gott, erhalte den Zaren!“

Drei Tage später. Der Abend des ersten Novembers. Eine plötzliche Stockung hemmt den Verkehr auf dem Newski-Prospekt. Offiziere auf schaumbedeckten Pferden galoppieren zu den Ministerien, zum Winterpalais, zu den Palästen der Großfürsten, alles weicht ihnen aus, angstvoll fragend blickt man ihnen nach. Sollte das Ereignis eingetreten sein, das man längst erwartet und an das man doch nicht zu glauben vermocht? Niemand weiß Antwort zu geben, jeder scheut sich, die traurige Antwort auf die drängende Frage zu geben! Da hallt es dumpf und dröhnend durch die Lüfte, die Isaaks-Kathedrale macht den Anfang und die Glocken der zahllosen Kirchen, Kapellen und Klöster fallen ein, immer gewaltiger und klagender rauscht und raunt es durch die gewaltige Stadt bis in die entlegensten Gäßchen, bis in die entferntesten Winkel, und ohne daß es jemand besonders verkündet, weiß man: Zar Alexander III. ist gestorben.

Durch die ganze Welt zuckt die Nachricht, denn ein weltbewegendes Ereignis hat stattgefunden – was werden seine Folgen sein, wie wird sich die politische Lage gestalten, welch’ neuer Wille wird das ungeheure Reich regieren, wie werden sich die Wirkungen in den anderen Staaten zeigen? Aber zunächst muß die Politik hinter das menschliche Mitgefühl zurücktreten. Man mochte oft nicht mit den Regierungsmaßregeln Alexanders III. einverstanden sein, man mochte die im Innern Rußlands getroffenen Maßnahmen bekämpfen und die von ihm nach außen hin gesponnenen oder unterbrochenen Beziehungen als Feindseligkeit empfinden – als Mensch genoß er allgemeine Hochachtung, zollte man ihm nicht bloß in Rußland warme Sympathien, die nun das Mitleid mit seinem schweren Schicksal verstärken!

Das Glück war nie den Romanoffs hold! Aber keiner von ihnen hat so im Bewußtsein drohenden Unheils gelebt wie der entschlafene Zar. Es waren keine heiteren Kindertage gewesen, die er in dem prunkvollen elterlichen Schlosse an der Newa verlebt; sicher hatte er sich seine Zukunft anders ausgemalt, der stets schweigsame und zurückhaltende Jüngling. Er wollte sie sich nach seinem Belieben gestalten, vielleicht fern der Residenz leben, für deren lockere Zerstreuungen er nie Neigung gehabt, und die stille, aber desto innigere Zufriedenheit in seiner eigenen Familie finden – da starb sein glänzend beanlagter Bruder und ihm, dem jedes Streben nach Macht, Glanz und Prunk fern gelegen, fiel die Thronfolge zu. Und schneller, als er es gefürchtet, mußte er dieser Pflicht genügen – an jenem Märztage 1881, an welchem man seinen Vater blutüberströmt in das Winterpalais hereinbrachte, wo er nach wenigen Sekunden seinen Geist aufgab.

Mit Hingebung und unermüdlichem Arbeitseifer widmete sich Alexander III. seinem hohen Berufe; aus seiner Umgebung suchte er leichte Sitten, Heuchelei und Trägheit zu verbannen, er, der Wahrheitsliebende und Aufrichtige, von Anfang an gab er ein leuchtendes Beispiel strengen Pflichtgefühls, untadliger Lebensart, emsigsten Fleißes, und er war wahrlich nicht daran schuld, wenn es so wenig in seinem Lande befolgt wurde. Von den Sorgen und Lasten der Regierung suchte er Erholung in seiner Familie, bei seiner Gemahlin Maria Feodorowna, mit der ihn eine innige Herzensneigung verband, bei seinen Kindern, bei seinen Geschwistern.

Aber die launische Glücksgöttin gönnte ihm auch dieses nicht; man weiß von den Zerwürfnissen zwischen ihm und seinem ältesten Sohne Nikolaus, sein zweiter Sohn Georg, den der Vater besonders

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_795.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2022)