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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Des Knaben Kopf fuhr mit weit geöffneten Augen zurück. „Vor Gericht? Bist verrückt? Vors Seeamt kommt er! Na, das is doch nich schlimm!“

Meta verzog das Gesicht zum Weinen. „Nee, nee! Wiesche Negenmörder hat zu Tante gesagt, daß Herr Voß gesagt hätte, daß Vater zu Loch käme!“

„Deern, man nich so laut, sie hört uns ja! – So’n Unsinn! Wie kannst da bloß ’an glauben?“

„Doch, doch! In der ersten Zeit, als Vater kam, hat er mich ja von sein Schoß gar nich runter gelassen, und jetzt schiebt er mir immer ab und guckt mir immer an, als ob ich schuld an ’was wär’!“

Franz versank in ernstes Nachdenken, dann sagte er: „Du bist an nix schuld; das werd’ ich woll wieder sein, das is ja immer so gewesen.“

Das Docht-Ende des Lichtes hatte sich mittlerweile zischend auf die Seite gelegt; die Flamme zuckte noch einigemal auf und erlosch dann. Gleich darauf dröhnte es dumpf vom Katharinenturm herunter. Sieben Uhr! Die Kinder erschraken. Meta glitt wie ein Wiesel aus der Kammer; Franz aber kroch noch auf ein paar Minuten zur Erwärmung ins Bett. Zitternd wickelte er sich dicht in die alte Decke, indem er seine Knie bis an die Brust hinaufzog.


„Die ‚Athapaska‘ hielt wunderbarerweise auch diese letzte furchtbare Grundsee aus und nach fünfzehn Stunden wurden wir endlich von dem Rettungsboot geholt. Weiter weiß ich nichts mehr auszusagen; wir alle aber bedauern, daß gerade unserem Kapitän dies Unglück zustoßen mußte.“ So schloß Negenmörder seinen Zeugenbericht.

Nachdem auch die anderen Zeugen verhört waren und der Reichskommissar sehr scharf gesprochen hatte, zogen die Mitglieder des Seeamtes sich zurück, um bald wieder zu erscheinen. Der Vorsitzende erklärte: in Anbetracht des vorzüglichen Verhaltens des Schiffers Bandholt unmittelbar vor und nach der Strandung sei auf eine Entziehung des Schiffsführerpatentes nicht erkannt worden, wohl aber müsse dem Schiffer wegen zu unvorsichtiger Navigierung, nachdem er das Gebiet der Nordsee erreicht hätte, eine ernste Rüge ausgesprochen werden.

Bandholt stand noch mit gesenktem Kopfe da und ließ seinen weichen, schwarzen Filzhut durch die rauhen Finger gleiten, als ein kleiner, alter Herr mit weißem Backenbart sich hastig an ihm vorbeischob, Negenmörder flüchtig die Hand gab und in der Thür verschwand. Der Kapitän zuckte zusammen. Diese Nichtbeachtung seiner Person war erst der entscheidende Spruch gewesen! Er kannte den Grundsatz seines alten Reeders, keinem Kapitän wieder ein Kommando zu geben, der einmal ein Schiff verloren hatte. Aber innerlich hatte er sich bis zum letzten Augenblick an die Hoffnung geklammert, daß Herr James Voß dieses einzige Mal eine Ausnahme machen würde. Er hatte nichts ersparen können; er wußte, daß er nach diesem amtlichen Tadel von keinem andern Reeder angestellt werden würde. Er sah seinen Ruin vor Augen. Und das hatte er selbst seinem Abgott, seiner kleinen Meta zugefügt!

Der Tag nach der Verhandlung war der 24. Dezember. Es war aber kein Weihnachtswetter, es regnete ununterbrochen, und noch früher als sonst brach die Dämmerung an. Die Kinder lagen in der Bodenkammer platt auf dem Fußboden, mit dem Ohr auf der Dielenritze. Jedes Wort hatten sie verstehen können, das zwischen dem Vater und Negenmörder gewechselt wurde. Sie wußten jetzt, daß der Vater nicht „zu Loch käme“, aber daß Herr Voß ihm seinen Posten kündigen wollte und daß er dann ein „verlorener Mann“ wäre. Sie konnten sich nicht recht vorstellen, was ein „verlorener Mann“ sei, nur daß es etwas Entsetzliches sein müsse, sagten sie sich. Es ward ihnen furchtbar bange. O, wenn sie ihm doch bloß hätten beistehen können!

Mit einem Mal schnellte Franz empor. „Meta, ich weiß ’was!“

Meta wischte sich Augen und Nase mit dem Handrücken und sagte ungläubig und kläglich: „Na?“

„Wir wollen zu Herrn Voß und für Vater bitten!“

„Meinst Du? Sie sagen ja aber alle, daß Herr Voß nix umsonst thut,“ wandte Meta weltklug ein.

„Soll er auch nicht! Ich schenk’ ihm die ‚Athapaska‘ zu Weihnachten!“

„Dann kriegt Vater ihr ja nich!“

„Dumme Deern, wenn er sich tot macht, weil er nu kein Schiff mehr hat, könnte er doch auch nix mit ihr anfangen! Komm flink! Um fünf Uhr fährt Herr Voß nach Harvestehude hinaus und denn können wir ihm nachflöten!“ –


„Wenn die Kinder meinen, daß sie wirklich so ’was Wichtiges haben, so lassen Sie sie hereinkommen!“ sagte Herr James Voß zu dem wartenden Diener, während er etwas verdrießlich ein Schriftstück zurückschob, zu dem er sich nur sehr ungern endgültig entschlossen hatte und das er erst nach dem Feste abschicken wollte. Es war an den Schiffer Herrn A. Bandholt, hierselbst, gerichtet.

Gleich darauf traten Franz und Meta ein und blieben nach einem heiteren „Guten Abend“ stumm an der Thür stehen. Herr James Voß drehte sich mitsamt seinem Sessel halb herum, setzte seinen goldenen Kneifer auf die Nase und starrte ins Halbdunkel.

Kühnen Entschlusses kam Franz mit dem enthüllten Schiffe näher; zaghaft trippelte Meta nach. Herr Voß warf einen flüchtigen Blick auf das Schiff.

„Unser Vater is Kapitän Bandholt, und wir wollten Ihnen gern ’was zu Weihnachten schenken, Herr Voß.“

„Mir? Das Ding da? Hat euer Vater euch geschickt?“ fragte Herr Voß scharf.

„Nee, Vater weiß da nix von,“ sagte Franz, dem es bereits unheimlich wurde.

Der Kaufmann betrachtete streng prüfend den Knaben. Nein, er konnte an der Wahrheit nicht zweifeln; aus dem unschönen Kindergesicht sah ihn ein Paar außerordentlich treuer ehrlicher Augen fest an.

„Na, Jung’, wie kommt Ihr denn dazu?“

Franz hatte sich die Sache ganz anders vorgestellt gehabt. Mühsam das aufsteigende Weinen bekämpfend, stieß er hervor: „Damit Sie Vater als Kapitän behalten!“

Herr James Voß sprang auf und stellte sich, die Hände in den Taschen, die Rockschöße über den Armen, vor die Kinder hin, die erschreckt einen Schritt zurückwichen. Meta, der die hellen Thränen über die Wangen rannen, zupfte Franz heimlich an der Jacke – es schien ihr die höchste Zeit, auszureißen. Aber Franz blieb standhaft.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_834.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)