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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Hund heulte laut auf und eilte geduckt davon, als spürte er schon im voraus die Schläge, die seiner warteten. Und der Hans Sepp erhob den Stock und stürzte mit einem Wutgeschrei dem Tier nach. Aber der Aloisl ergriff den Kameraden beim Wams und hielt ihn fest und keuchte es ihm ins Gesicht: „Böser – o Du Böser!“

Da that der Hans Sepp einen Stoß mit der Faust gegen des Genossen Brust; der taumelte, überschlug sich und stürzte im nächsten Augenblick in den zischenden Bach hinab, der ihn verschlang. – –

*  *  *

Stunden waren vergangen, der Hans Sepp watete im Schnee, hoch droben auf dem Kamm des Ortlers; er wußte nicht, wie er heraufgekommen war; besinnungslos vor Entsezen war er dem Orte seiner That enteilt, von dem Gefühl seiner Schuld getrieben wie mit Peitschenhieben; blindlings war er über Spalten gesprungen, auf dem Bauche über Gletscher gekrochen. Und nun stand er oben in der Ureinsamkeit des Bergriesen und vernahm nichts weit und breit als das Atemholen seiner eigenen sündigen Brust.

Mit einem lauten Aufschrei brach er im Schnee zusammen.

Als er erwachte, lag er warm gebettet unter einem schützenden Dach; es fing eben an zu dämmern; ein dunkelbärtiger Mann beugte sich über ihn, lachte ihm zu und reichte ihm ein Glas Wein und ein Stück Brot. Hans Sepp setzte sich auf und aß und trank. Von dem, was der Mann zu ihm sagte, vermochte er nichts zu verstehen, aber soviel erriet er, daß er sich in der auf dem Kamm des Ortlers errichteten Schutzhütte befand, und die Männer, die sich um ihn her bewegten, Bergsteiger waren. Nachdem sich diese überzeugt hatten, daß der Bub, den sie im Schnee aufgefunden hatten, lebte und mit Lust aß, streckten sie sich unverzüglich auf ihren Pritschen aus, denn eine Verständigung blieb ausgeschlossen, da sie Italiener waren.

In der Frühe, als sie aufbrachen, wollte sich ihnen der kleine Mensch ohne weiteres anschließen; sie zeigten hinunter in sein Heimatthal, ob er dahin gehöre, aber er schüttelte den Kopf, als ginge es ihn nichts an; auch von Trafoi jenseit des Ortlers wollte er nichts wissen. Auf das Gebaren der Männer hin, die ihn durchaus nicht mitnehmen wollten, blieb er endlich zurück, auf der Schwelle der Hütte kauernd, wie in sein Schicksal ergeben.

Die Wanderer schritten über den Grat des Ortlers, angeseilt einer an den andern, mit Steigeisen und Pickel bewaffnet. Als sie, einen Augenblick von ihren Mühsalen rastend, sich umschauten, sahen sie zu ihrem Entsetzen den Buben hinter sich herkommen; nur mit einem Stock versehen, kletterte er die schmale Kante entlang, rechts und links schwindelnden Abgrund; dem kaum Vierzehnjährigen schien das Leben keinen Deut zu gelten. Einer der Männer kam ihm ein Stück entgegen, dann nahmen sie ihn in ihre Mitte, nachdem sie ihn mit dem Nötigsten versehen hatten.

Fünf Tage gingen so hin unter allen erdenklichen Strapazen, unterbrochen von einer gelegentlichen Rast in den da und dort für die Bergsteiger errichteten Schutzhütten. Der Unternehmer der Tour war ein junger Italiener mit seinen drei Führern, von denen der kühnste, den sie Felice nannten, in Hans Sepps Augen der Held war; ihm nachzueifern und ähnlich zu werden, war fortan sein ganzes Bestreben. Als dem Felice der Eispickel in eine Lawinenrinne hinuntersauste und kein Mensch daran dachte, ihn wieder zu holen, war’s der Hans Sepp, der in aller Stille die That unternahm. Die Männer hatten sich auf dem Plateau des Hochjoches an einer windgeschützten Stelle gelagert und mit Speise und Trank gestärkt, als der Bub völlig atemlos, mit leuchtenden Augen auf den Felice zutrat und ihm seinen verloren gegebenen Pickel hinreichte. Der junge Italiener, ganz hingerissen von des kleinen Mannes That, griff in die Tasche und schenkte dem Hans Sepp ein großes Silberstück. „Braver, Braver!“ nickte er ihm zu, mehr wußte er nicht von deutschen Lauten, aber diese reichten hin, dem Burschen die Röte der Scham in die Stirne zu treiben. Wie es ihm plötzlich wieder in den Ohren gellte, das „Böser, o Du Böser!“ – jene letzten Worte des Aloisl.

Unter den Gefahren, wenn ihm die Anstrengung Denken und Fühlen raubte, schwieg jene innere Stimme, um ihn dann freilich in den Augenblicken der Ruhe um so lauter zu verfolgen. Wo war sie nun hin, die ihn so plötzlich durchzuckende Freude über das erste eigene Geld, das seine Hand umschloß? Er war der Brave nicht, für den die Männer ihn hielten – der Aloisl war tot durch ihn, für immer von der Welt genommen; es gab keine Sonne mehr für den Armen, keinen Feiertag, nichts mehr, was ihn freuen konnte. – Ich darf auch nichts haben, flüsterte eine innere Stimme in Hans Sepps Brust, für mich soll’s auch keine Freude mehr geben auf Erden. Und mit einem tiefen Seufzer und Thränen an den Wimpern, ließ er sein Geldstück in eine Felsspalte gleiten; es war eine That für ihn, und er glaubte allen Ernstes, halbwegs wenigstens den lieben Gott versöhnt zu haben.

Allein trotzdem überkam ihn auf der ganzen Wanderschaft nie wieder auch nur ein einziges Mal jene plötzliche Fröhlichkeit, wie sie ihn daheim so oft erfaßt hatte, daß er wie ein Verrückter schreien und jauchzen mußte, als warte auf ihn irgend ein großes unermeßliches Glück. O ja, er hatte es schön gehabt, wenn schon er mit allen in Fehde gelebt; jetzt hatte er sein Recht verscherzt und durfte nie wieder Gericht halten über die andern, denn von allen Menschen hatte er das Schlimmste gethan.

(Schluß folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 850. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_850.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)