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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Weihnachtsmärchenspiele.
Von Alexander Tille.
Mit Illustrationen zu Humperdincks „Hänsel und Gretel“ von A. Zick.

In demselben Maße, in welchem im Volke sich noch fortgesetzt Bestandteile der volkstümlichen Ueberlieferungen an das Weihnachtsfest heften und es zum größten Jahresfest erheben, sind seit dem Aufleben der Romantik am Anfange des 19. Jahrhunderts die führenden Schichten beschäftigt, sich das neugewonnene Kinderfest zu verklären, indem sie es mit der Sagenwelt der deutschen Vorzeit verknüpfen. Von ein paar hergebrachten Anfangspunkten ausgehend, bauen sich die Freunde der Volkskunde eine ganze germanische Weihnachtsmythologie zusammen, und es wird das Lieblingsthema der Weihnachtsbetrachtung, sich auszumalen, wie die Götter des deutschen Himmels in der heiligen Zeit der Wintersonnenwende herniederstiegen zu den Menschen und ihnen Gaben und Segen brachten, wie die Unholde in der wilden Jagd umherbrausten und den Neugierigen straften, dem Biederen und Gehorsamen aber ein Glückskleinod zuwarfen, wie die „alten Germanen“ durchs Wintersonnenwendfeuer sprangen und den Jul-Eber schmausten, und all das dient dazu, das Weihnachtsfest im Volke nur um so fester zu gründen und unauflöslich mit der sonstigen volkstümlichen Ueberlieferung zu verweben.

Ein Weihnachtsschauspiel, das sich an die moderne Weihnachtsstimmung wenden will, kann einzig diesem Boden entsprießen, und es entspringt ihm in der jüngsten Blüte des deutschen Weihnachtsfestes, in der Weihnachtsfeerie, die seit zwei Jahrzehnten allweihnachtlich über die deutschen Bühnen geht. Was in der italienischen Zauberkomödie des 18. Jahrhunderts an poetischem Gehalte stak, damit belebten die Dramatiker unter den deutschen Romantikern ihre Märchendramen. Zwar sind die Kinder- und Hausmärchen nicht in demselben Sinne deutschnationales Eigentum wie die deutsche Götter- oder Heldensage, aber, seit dem 10. Jahrhundert aus dem Morgenlande nach Deutschland eingewandert und seitdem von der Volksüberlieferung und der populären Litteratur fortgepflanzt und in ihnen lebendig erhalten, können sie doch deutsches Heimatsrecht für sich beanspruchen. Was Ludwig Tieck angebahnt hatte, das setzte der Graf von Platen fort, indem er die beiden Märchen „Aschenbrödel“ und „Dornröschen“ launig zu seinem kleinen Drama „Der gläserne Pantoffel“ verschmolz. Der „Gläserne Pantoffel“ wurde vorbildlich für eine Reihe ähnlicher Schöpfungen, und die mit Riesenschritten fortschreitende moderne Bühnentechnik schuf ein wahres Feenländ der Wunder. Sich an die Kinderwelt vor allem wendend, rückten diese Märchendramen ganz von selbst auf Weihnachten, und als specielle Weihnachtsfeerien entstand seit etwa 1870 eine ganze Reihe melodramatischer Stücke.

Wie Goldmarie und Pechmarie auf des Brunnens Grunde in Frau Hollens Reich kommen und die eine für ihren Fleiß Gold und einen Prinzen, die andere für ihre Faulheit den Pechregen erntet; wie es Gold regnet und wie die Zwerge mit den vielen Weihnachtsbäumchen den Reigen tanzen, wie die Elfen einherspringen mit den weihnachtlich duftenden Tannenzweigen, wie in Frau Holles Welt alles weihnachtsmäßig ausschaut und Weihnachtslust und Weihnachtsfreude ist; wie die Schwester in den „Sieben Raben“ sieben lange Jahre schweigt, um die verzauberten Brüder zu erlösen, und wie Aschenbrödel, daheim zur Schmutzarbeit verurteilt, vom Bäumchen auf Mutters Grabe goldene Kleider übergeworfen bekommt, auf dem Balle alle anderen Mädchen, die Stiefschwestern eingeschlossen, überstrahlt und trotz aller Hindernisse zuletzt doch noch den Prinzen zum Gatten erhält, das alles zeigt die moderne deutsche Weihnachtsfeerie. Und wenn auch hier und da ein Stück poetischer Duft von dem alten Märchen verweht, so wird sein Gehalt und sein Zauber dafür wieder Tausenden nahegebracht, die kein Märchenbuch lesen und nimmermehr Großmütterchens traulichen Geschichten hinterm Ofen lauschen würden; und das Wunderland der Phantasiewelt tritt dem Zuschauer dafür mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 864. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_864.jpg&oldid=- (Version vom 30.10.2019)