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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sie Rollen übernehmen, Monologe und Dialoge halten oder den Sang der mündlichen Rede wie ein Instrument, eine Zither oder Harfe begleiten müssen!

Dann waren sie Künstler.

Die höchste Ausbildung in ihrer Kunst erfuhren sie bei den griechischen und römischen Schauspielern, ganz besonders bei jenen, deren Gesicht durch die Maske verdeckt war, so daß sie, unter Verzicht auf das Mienenspiel, einzig auf die Gebärdensprache der Hände und Gliedmaßen angewiesen waren.

Jede veränderte Haltung der Hände und Arme, jede Bewegung der einzelnen Finger drückte einen anderen Sinn aus, der nie mißzuverstehen war. Das war höchste Kunst und jeder Schauspieler suchte sie zu erweitern, auszubilden, zu verfeinern, zu raffinieren: wer etwa einen Zitherspieler darzustellen hatte und hätte dabei die saitenrührende Bewegung der Hände angewendet, würde als ganz ordinärer Pfuscher angesehen worden sein.

Diese Kunst drang damals ins Volk, hat sich im Volke Italiens fortgeerbt, ist aber am lebendigsten geblieben, gleich tausend andern antiken Reminiscenzen, im Süden: beim napolitanischen und sizilianischen Volke, bei denen man sie sozusagen noch an dem Quellbache studieren kann.

Der Archäolog, der die herrlichen figurierten Vasen der süditalienischen Museen studiert, auf denen Gestalten in mancherlei sprechenwollenden Gebärden dargestellt sind, findet eine Erklärung dieser stummen Sprache in den Gebärden des gestikulierenden Volkes am parthenopeischen Molo, wo ein Kerl in Lumpen einem Parterre von Lumpen mit höchstem Pathos des Worts und der Gebärde das Ariostsche Epos vorträgt ....

„und der Vorzeit gedenk’ ich, da unter glücklichem Himmel
Einst vom Achill und Ulyß Griechen der Sänger erzählt.“

Hier mag der Archäologe forschen ...

„Wohl in Lumpen und Schmutz gewahrst du griechische Bildung,
Geistreich lächelt der Kopf unter der Mütze dich an.“

In einem sehr gelehrten, freilich auch sehr trockenen Werke „La mimica degli antichi“ („Die Mimik der Alten“) vom napolitanischen, sein Volk gründlich kennenden Kanonikus Andrea de Jorio (Neapel 1832) wird der Zusammenhang der napolitanischen Mimik mit der altgriechischen nachzuweisen gesucht. Der Gegenstand hat, wie es scheint, seinen Mann höchlichst interessiert, er ist aber nicht der erste, der darüber schrieb: schon 1616 erschien von dem Rechtsgelehrten Giov. Bonifacio das Werk „L’arte de’ cenni“, dessen deutsche Ausgabe den Titel führt „Die Kunst der Zeichen, allwo durch sichtbare Sprache von der stummen Beredsamkeit gehandelt wird oder von dem wohlverständlichen Schweigen. Eine neue Materie, insbesondere für die Fürsten, die ihrer Würde wegen sich mehr durch Zeicheu weder denn durch Worte verständlich machen.“ Noch mancher Band wäre anzuführen, welcher beweist, wie das Thema schon viele „Perückenhäupter, arme schwitzende Menschenhäupter“ beschäftigt hat, aber hier könnten nur Momentphotographieapparate helfen: die Gebärdensprache beschreiben, heißt Blitze und Funken fangen und zergliedern wollen.

So mag es kommen, daß Nordländer dem sprechenden Napolitaner gegenüber nicht bloß staunen über den „regsamen Polypen“, sondern daß ihnen diese „haspendzappelnden“ Gebärden, aus denen sie nicht klug werden, geradezu unheimlich erscheinen. So sagt der alte gute Bogumil Goltz, kleinstädterischen Angedenkens, unberührt von klassischen Reminiscenzen: „Die geistige Unthätigkeit macht dem napolitanischeu Volke die körperliche Agitation zum Bedürfnis, denn irgendwo will das Leben doch hinaus, irgendwie will es sich doch äußern, so fährt es denn in die Arme und Beine, aber die Schlaffheit und Stupidität der meisten steht mit ihrer krampfhaft leidenschaftlichen Beweglichkeit in desto unheimlicherem Kontrast.“ Lassen wir das Leben selbst ihm entgegnen.

Der frisch zugereiste Freund ruft mich eben ans Fenster.

„Sieh! sieh da, auf dem steilen Dache da drüben ein Verrückter Sieh nur, wie er mit den Händen in seinem Gesicht herumfuchtelt, die Luft durchfingert, mit den Fingern ficht!!“

„Das ist eine alte Komödie, Freund. Fast jeden Tag wird sie an derselben Stelle aufgeführt. Ein Liebesduett! Wir sehen nur den glühenden Leander, Hero wohnt ein paar Dächer weiter unten jenseit der Straße, was sie eben spricht, sehen wir im Spiegel der Gebärden des Liebhabers. Paß auf!

Er schließt beide ausgestreckte Zeigefinger zusammen, bewegt die auf die Schneide gestellte Rechte steuerruderähnlich vor sich hin ... deutet kurz und entschieden mit dem Zeigefinger gegen den Mittelpunkt der Erde ... schlägt, den Kopf fragend vorgeneigt, mit demselben Zeigefinger, malend einen Brückenbogen durch die Luft ... schlägt zwei Brückenbogen ... jetzt beugen sich die Kniee und die Hände kreuzen sich krampfhaft, zugleich eine Augenverdrehung gen Himmel ...“

„Ja aber was heißt das alles?“

O, der ist noch lange nicht fertig, schau, der Zeichentelegraph spricht weiter. Bisher hat er gesagt: Schatz, können wir denn nicht einmal zusammen sein, Promenadenwege wandeln? Vielleicht morgen? ....! Dann übermorgen? ....! Nun faßt ihn die Verzweiflung. Er stellt die fünf Finger der Rechten wie eine Glocke oder wie einen Weiberrock auf die Fläche der Linken und zeigt wieder auf den Boden, schmiegt nun die linke Wange bei geneigtem Kopfe mit geschlossenen Augen in die linke hohle Hand, zeigt auf die eigene Brust und dann auf die Geliebte, hebt die weitgeöffnete rechte Hand bei straffem Arm gegen die Ferne, stößt mit dem Zeigefinger in senkrechter Haltung mehrmals gegen den Boden und verschwindet.

Die Finger als Weiberrock auf der Linken und all das folgende bedeuten: die Mutter ... ist sie zu Hause? Was macht sie? Schläft sie? Ja? So komm’ ich auf einen Sprung unter deinen Balkon ... erwarte mich! ... jetzt, jetzt, ich komme sofort!“

„Wie aber können jene Bogen in die Luft morgen und übermorgen bedeuten?“

„Sie können je nach dem Inhalte des Gespräches auch Wochen, Monate, Jahre bezeichnen, ja, eine halbe Ewigkeit kann man durch sie ausdrücken, wenn man rasch hintereinander in die Luft schlägt und mit der Hand auf der Schneide zuletzt das Zeicheu des Und-so-weiter macht. Die ursprüngliche Bedeutung des Halbkreises ist der Lauf der Sonne vom Aufgang zum Niedergang.“

„Wie aber fängt man so eine Liebe über die Dächer weg an?“

„Hast Du Lust dazu? Waibliuger erlebte es und dichtete es:

Dort ans Fenster führt mir der Schalk ein liebliches Mädchen,
Erst nur Blicke, doch bald folgt der verstohlene Gruß.
Und man redet mit Zeichen, man redet mit Augen und Händen;
Andere Sprache vergönnt lauschende Nachbarschaft nicht.
Kannst du lesen, mein holdestes Kind? so frag’ ich mit Zeichen,
‚Ja,‘ ist die Antwort, im Nu liegt auch ein Briefchen bereit.“

Mit dem Kleingewehrfeuer der Blicke fängt man auch hier an; um aber die Einleitungsphrase „Wie schön bist Du!“ durch Gebärden auszusprechen, öffnet man Daumen und Zeigefinger der Rechten ziemlich weit, nimmt in diese Spanne seine eigenen beiden Wangen und fährt leicht und rund mehrmals an ihnen herab (s. Fig. 7), dazu süße Augen ... Die Napolitanerin kennt das nur zu gut: „Dein Gesichtchen ist so glatt und rund wie ein Ei, also schön, ich möchte es liebkosen.“ Drückte man Daumen und Zeigefinger bei ganz der gleichen Gebärde zu tief in die Wangen hinein, so würde es Magerkeit bedeuten: „Du bist mir zu mager“, und zur Antwort würde dem Ungeschickten das reizende Händchen in der Formation von Fig. 11 oder auch beide, wie es der Junge im Mittelbilde thut, entgegengestreckt werden und dies bedeutet nichts Angenehmes, vor allen Dingen ist es eine Verwünschung. „Daß Du platzen möchtest!“

Die Gebärde ist in Deutschland nicht unbekannt, dort bezeichnet man sie unschuldigerweise als „Jemaud einen Esel bohren“ und haben der ausgestreckte Zeige- und kleine Finger die Bedeutung von Eselsohren. In Italien heißt die Hand in dieser Fingerstellung „mano cornuta“, die „gehörnte“, und ist sie in das öffentliche und Privatleben derart verflochten, daß der Napolitaner ohne mano cornuta nicht leben möchte, nicht leben könnte, denn durch sie und nur durch sie wendet er das Unheil ab, das ihm von „allen Enden her bereitet“ wird durch den bösen Blick – „Malocchio“, auch „Jettatura“ genannt –, welchen nur die gehörnte Hand, die so leicht an Stelle des nicht immer bereiten Hornes tritt, besiegt.

Das Kapitel „Horn“, die Rolle, die alles Hornähnliche, wie Korallenästchen, Krebsnasen, Hahnensporen, Pferdezähne, Schweinshaüer, Schweineklauen, Hufeisen, Halbmöndchen, die bezeichnete Gebärde in sich schließend, als Amulett in Italien spielt, ist ja hundertfach behandelt worden – hier beschäftigt uns nur die Gebärde.

Und die hat vieles zu bedeuten: die Drohung, jemand die Augen auszustechen, wobei die Bewegung, so der Bedrohte fern ist, gegen die eigenen Augen ausgeführt wird; eine verächtliche, unwerte Sache („kein Horn wert“); eine Verwünschung; Stolz und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_286.jpg&oldid=- (Version vom 12.11.2020)