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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Aber auch Wilhelm v. Humboldt sah in seinem Bemühen um die Gründung der Berliner Universität und in seinem Eintreten für die Einführung des neuhumanistischen Geistes in unsere Gymnasien nur eine besondere Anwendung dessen, was Pestalozzi für die ganze Volkserziehuug verlangte: Kraftentwicklung; und in dem von Süvern ausgearbeiteten Entwurf eines allgemeinen Schulgesetzes für Preußen fand die Forderung dieses Zusammenhanges zwischen den verschiedenen Bildungs- und Schulstufen ihren ganz bestimmten Ausdruck.

Als aber die Schlachten geschlagen und die Fremdherrschaft gebrochen war, da wurden allmählich die dunklen Geister in Deutschland Meister, von denen einer, der bekannte reaktionäre Staatsrechtslehrer Ludwig von Haller, über Pestalozzi schrieb: „Die Methode Pestalozzis sei dahin berechnet, den Zöglingen Gleichgültigkeit und Abneigung gegen die christliche Religion, Haß gegen alle natürlichen Oberen, Unzufriedenheit mit den sozialen Zuständen und revolutionäre Gesinnungen einzuflößen.“ Und so dämpfte man wie überall so auch hier den Geist und ließ das Beste von dem, was Pestalozzi gedacht und erstrebt hatte, unausgeführt. Allein die Schätze, die bei ihm zu holen waren, waren auch in dieser Verengung und Beschränkung noch groß genug; wenigstens in der deutschen Volksschule ging der Same, den er ausgestreut hatte, auf und trug reiche Früchte; Männer wie Dinter, Diesterweg und viele andere in allen deutschen Ländern und Staaten haben seinem Geiste hier den Weg gebahnt und zum Sieg verholfen. Seine Bedeutung lag nun bis auf weiteres darin, daß durch ihn die deutsche Volksschule einen Inhalt erhielt, der ihr bis dahin noch abgegangen war.

Die deutsche Volksschule ist nicht das Kind der Kirche – weder der alten katholischen des Mittelalters noch der jüngeren protestantischen der Reformationszeit, sondern sie ist eine Schöpfung des Staates. Wohl hat Luther auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Schulbildung für alle, Arme und Reiche, Mädchen und Knaben, hingewiesen; aber zur Wirklichkeit wurde diese Forderung erst, als der Staat diese allgemeine Elementarbildung erzwang. Mit diesem staatlichen Schulzwang ging Weimar im Jahre 1619 allen anderen deutschen Staaten voran, Preußen folgte erst 1717 nach und das Generallandschulreglement Friedrichs des Großen mußte im Jahr 1763 die allgemeine Schulpflicht aufs neue einschärfen. Aber was helfen Schulen ohne den rechten Meister der Schule, ohne Lehrer, die Schule halten können? Was hilft der Schulzwang, ohne daß gleichzeitig von seiten des Staates für Lehrerbildung gesorgt wird? Auch das hat der Staat im 18. Jahrhundert als Pflicht anerkannt: 1732 wird in Stettin das erste preußische Lehrerseminar eingerichtet und unter Friedrich dem Großen fällt es der von Hecker gestifteten Realschule in Berlin zu, „die Landschulen in den Königlichen Aemtern mit guten Subjektis aus dem Seminario zu versorgen“. So war der Rahmen geschaffen, die Volksschule war da; aber sie hatte für ihren Unterricht noch keinen genügenden Inhalt und noch keine richtige Methode; die Bemühungen des wackeren Erbherrn von Rochow blieben infolge des Widerstandes der agrarischen Junker vereinzelt, und die Experimente der Philanthropinisten waren nicht auf die Volksschule berechnet. Durch Pestalozzi kam nun mit einem Schlage beides, Inhalt und Methode. In der Schrift „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ (1801) deckte er die Gebrechen des bisherigen Unterrichtsbetriebes auf: das Buchstabenwesen, das Reden ohne Anschauung, „das Maulbrauchen und die Mauldrescherei“ – das ist es, „was die letzte Spur des Flammengriffels auslöscht, womit die Natur ihren Geist in unserem Busen zeigen will.“ Darum weg damit! Und im Gegensatz dazu weist er dann hin auf die Anschauung und Bethätigung der Sinne und verlangt überall das Zurückgehen auf Selbsterlebtes, Selbstempfundenes. Indem er sich aber bemüht, die elementarsten und natürlichsten Gesetze für den Gang des Unterrichts aufzufinden, glaubt er in Schall, Form und Zahl die von der Natur selbst anerkannten Ausgangspunkte aller Elementarbildung entdeckt zu haben. So wollte er die Erziehung – wie er selbst ungeschickt genug sagt: mechanisieren; richtiger hieße es: sie psychologisieren. Die zunächst sichtbaren Wirkungen dieser psychologischen Begründung der Unterrichtsmethode waren aber neben der Betonung der Anschauung in allen Fächern die Aufnahme von Gesang und Zeichnen in den Kreis der Schulfächer und die erstmalige sichere Fundamentierung des bis dahin noch fast völlig vernachlässigten Rechenunterrichts.

So wurde Pestalozzi der große Organisator der Volksschule, und durch den Anschluß an ihn wurde die deutsche Volksschule eine Pestalozzischule. Deshalb hat auch im Jahre 1846 vor allem die deutsche Lehrerwelt Pestalozzi gefeiert – als den großen Volksschulpädagogen. Das war nicht falsch; denn das war Pestalozzi. Aber es war zu eng; denn er war mehr; und es war zu wenig, wenn das Fest nur seitens der Volksschule und ihrer Vertreter begangen wurde. Damit verkannte man ja seine große Lehre von der Notwendigkeit des Zusammenhangs aller Schulen und Bildungsstufen, die er aufgestellt und die die preußischen Schulräte und Minister in der ersten Begeisterung so ganz begriffen und so freudig erfaßt hatten. Man verkannte sie aber deswegen, weil man das Tiefste in Pestalozzis Wesen und Wirken überhaupt nicht mehr begriff und ganz auch noch nie begriffen hatte, das Soziale.

Völlig zwar war auch diese Seite zu Anfang nicht übersehen worden; das bewies in der Schweiz die pädagogische Kolonie des Freiherrn von Fellenberg in Hofwyl, und bewies in Deutschland die Gründung der ersten Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder durch Johannes Falk im Jahr 1813. Als 1839 der Pcstalozzianer Fröbel den ersten Kindergarten einrichtete, da wirkte auch dabei das soziale Pathos mit; und daher war auch das Verbot dieser Kindergärten durch Preußen im Jahre 1851 nicht so gar verwunderlich, wenn es unter anderem damit motiviert wurde, daß dieselben sozialistisch seien. Darin lag doch eine ganz richtige Witterung von dem wahren Wesen des Pestalozzischen Geistes. Denn daran ist kein Zweifel: Pestalozzi ist erfüllt von sittlich sozialen Ideen, seine Pädagogik ist Sozialpädagogik, und man thut ihm kein Unrecht, wenn man ihn nicht nur um seines vernachlässigten und saloppen Aeußeren willen und wahrlich nicht um ihn zu tadeln – den großen Proletarier unter den Pädagogen nennt.

Und eben diesen, den Proletarier, den Bannerträger eines sittlich sozialen Geistes, feiern wir dieses Mal im Zeitalter der sozialen Frage, weil und soweit diese eine sittliche und eine Erziehungsfrage ist. Ihn jammerte des Volkes: das ist der tiefste Ausgangspunkt für seine pädagogische Reform; in diesem Sinn wurde er Sozialist mit einem Herzen voll Liebe und Hilfsbereitschaft, und als das einzige Mittel zu helfen erschien ihm eine Volkserziehung von unten auf und von innen heraus, bei der es galt, die gebundenen Kräfte zur Selbsthilfe zu entwickeln und zu entfesseln. Darum gründete er schon auf dem Neuhof seine erste Armenschule: mit den 50 Zöglingen derselben wollte er im Sommer das Gut bebauen und im Winter Baumwolle verarbeiten, und während der Arbeit und durch sie sollten dann die religiösen, ethischen und intellektuellen Kräfte dieser vernachlässigten Bettelkinder geübt und dieselben dazu erzogen werden, um „die Pflicht in ihrem ganzen Umfang über den Hang in allen seinen Richtungen herrschend zu machen“; die Liebe aber sollte der gute Geist des Hauses sein.

So fand er, der zunächst wohl nur daran gedacht hatte, seine Anstalt durch die Arbeit der Kinder aus sich selbst heraus zu erhalten, wie Saul, der ausgezogen war, um seines Vaters Eselinnen zu suchen, ein Königreich, das neue Reich einer wahrhaft sozialen Pädagogik; denn dabei ging ihm das Verständnis für den Wert der Arbeit und der Gedanke auf, sie für die Erziehung nutzbar zu machen und zu organisieren, als Idee, als die große Aufgabe und als der Leitstern seines Lebens und Wirkens. Durch Arbeit wird man erzogen zur Arbeit, durch sie werden alle physischen und psychischen, die intellektuellen und die moralischen Kräfte entwickelt und entfesselt: der Zweck der Verstandesbildung wird in der Arbeit gefördert, weil bei ihr Natur und Naturgesetz zu unmittelbarer Anschauung kommt, ein Selbsterlebtes und Erfahrenes wird. Und ebenso hat der sittlich soziale Gedanke vom Wert der Arbeit als einer Menschen verbindenden Macht in diesem Selbsterlebten seinen Ursprung. Nur denke man dabei nicht an etwas Großes und Besonderes, sondern ganz einfach an das Zusammenarbeiten der Kinder mit der Mutter im Haus. Die Mütter – in ihre Hände legt Pestalozzi die erste Bildung des Volkes! Die Wohnstube ist die erste Erziehungsstätte, durch die Mutter wird sie zu einem wahren Heiligtum; denn sie gleicht „der Sonne Gottes, die vom Morgen bis zum Abend ihre Bahn geht: dein Auge bemerkt keinen ihrer Schritte und dein Ohr hört ihren Lauf nicht; aber bei ihrem Untergang weißt du, daß sie wieder aufsteht und fortwirkt, die Erde zu erwärmen, bis ihre Früchte reif sind“. So wird durch ihr Walten das bloß äußerliche Thun der Arbeit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0030.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2020)