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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


In zehn Minuten sollte der Zug abgehen. Frau von Sindsberg trank schweigsam und verstimmt ihren Kaffee. Sie war ernstlich böse. Sie von hier fort, in die weite Welt hinaus zu schleppen, ins Ungewisse, ohne Engagement, mit wenig Geld: es war lächerlich und rücksichtslos! Und wenn Marie wenigstens zufrieden wäre! Aber saß sie nicht da wie eine Trauerweide, mit einem todestraurigen Gesicht? Sie hatte doch nun ihren Willen! In wenigen Minuten ging der Zug, der sie wieder in die fremde, lieblose Welt hinausführte.

Langsam erhob sich Marie und raffte das Handgepäck zusammen. Der Portier rief eben das erste Mal ab.

Sie fuhren natürlich dritter Klasse. Marie breitete für die Mama sorgsam eine Reisedecke auf den harten Sitz. Hoffentlich blieb man allein im Coupé. Sie beugte sich forschend hinaus; auf dem Perron waren keine Reisenden sichtbar. Plötzlich zuckte sie heftig zusammen und erblaßte. Sie wollte zurücktreten, sich verstecken, aber sie vermochte nicht, sich zu rühren. Sie sah, wie Wolf von Schindler mit dem Kondukteur sprach, wie dieser auf ihr Coupé deutete. Dann stand er vor ihr mit abgezogenem Hut, in der Rechten eine prächtige Rose.

„Ich wollte Ihnen noch Lebewohl sagen, Fräulein von Sindsberg!“

Er zitterte vor Erregung und war ebenso bleich wie sie, als er ihr die Blume reichte.

„Leben Sie wohl!“ stammelte Marie.

Frau von Sindsberg schrie erfreut auf. „Ah, das ist reizend von Ihnen; immer galant! Auf Wiedersehen, lieber Baron!“

„Auf Wiedersehen, gnädige Frau! – Ich muß unter vier Augen mit Ihnen sprechen, mein gnädiges Fräulein!“

Er öffnete die Thür und sah sie mit flehenden Augen an.

Marie, wie gebannt und hingerissen von dem leidenschaftlichen Ton seiner Worte, stieg fast mechanisch aus. Frau von Sindsberg blickte ihr mit großen erstaunten Augen nach.

„Fräulein Marie, ich habe Ihnen so vieles zu sagen und so wenig Zeit! Ich bitte Sie um Verzeihung!“

„O, das ist nicht nötig! Sie hatten ja das Recht zur Kritik durch Ihr bezahltes Billet!“ stammelte Marie mit bebenden Lippen.

„Wie habe ich diese Unart, diesen Wahnsinn bereut! Ich liebe Sie ja schon so lange, Marie!“ Er faßte mit krampfhaftem Druck ihre beiden Hände.

Der Schaffner näherte sich.

„Einsteigen, meine Herrschaften; es ist höchste Zeit!“

„Sehen Sie, es ist keine Zeit zu verlieren – können Sie mir vergeben?“

Marie rang nach Worten.

„Einsteigen, einsteigen!“

„Können Sie mich wieder ein wenig lieb haben?“

„Diese Frage, jetzt –?“

„Willst Du mein Weib werden?“

Sie zitterte so heftig, daß er sie stützen mußte.

„Ja oder Nein?“

„Ich weiß nicht … ich fürchte – ich –“

Doch ihre Augen sahen zu ihm vertrauensselig empor.

Wieder näherte sich der Schaffner. „Der Zug geht ohne Sie ab; steigen Sie doch ein, meine Herrschaften!“

Einen Augenblick noch zögerte Wolf, dann schob er Marie sanft beiseite, sprang in das Coupe und warf in rasender Eile das Handgepäck heraus.

„Was thun Sie? Um Gotteswillen, was thun Sie?“ rief Frau von Sindsberg entsetzt.

„Erlauben Sie!“

Schon hatte er ihr den Arm geboten und die Verblüffte herausgehoben. Die Reisedecke flog ihr nach.

„Fertig!“ schrie der Schaffner und schlug mit dröhnendem Knall die Thüre zu.

An den Fenstern der andern Wagen zeigten sich erstaunte Gesichter. Der Inspektor hatte sich genähert. Die Maschine pfiff; langsam setzte sich der Zug in Bewegung.

„Aber Herr Baron! Erklären Sie …“ Frau von Sindsberg hauchte es nur, sie zitterte vor Aufregung und sank unwillkürlich auf ihren Koffer nieder.

Schindler sah sich rasch um: der Inspektor war diskret zurückgetreten, niemand in Hörweite, eben hatte der Zug die Halle verlassen und sauste nun in vollem Laufe dahin.

„Gnädige Frau,“ sagte er mit seinem alten übermütigen Lächeln, „ich nehme mir die Freiheit, Sie um die Hand Ihres Fräulein Tochter zu bitten!“

So sprachlos erstaunt, wie jetzt Mariens Mutter, waren dann auch alle anderen, als sie von der plötzlichen Verlobung hörten. Mit Töchtern gesegnete Mütter erklärten die Schauspielerin jetzt für eine raffinierte Kokette, und der Direktor nahm sich vor, die zukünftige Frau Baronin um ein Gastspiel zu bitten.

Frau von Schmidtlein hatte alle Hände voll zu thun. Sie besorgte im Auftrage Wolfs eine glänzende Ausstattung und „wühlte“ in echten Spitzen und duftigem Batist. Daneben aber wurden auch wetterfeste Mäntel und Lodenkleider bestellt, denn die künftige Gutsfrau wollte für die Gänge über Feld mit ihrem Manne gerüstet sein.

Wolf von Schindler versichert seiner Braut wieder und wieder, daß er jetzt erst erfahre, was echtes Glück sei. Aber zwei schwere Sorgen quälen ihn doch. Erstens, daß das Aufgebot so lange dauert, zweitens, und das ist sein wirklicher Kummer, ob er nicht zu alt und zu – häßlich für sie sei.

Wenn man Marie betrachtet, kann man ihm nicht so unrecht geben. Das Glück hat sie noch verschönert. Ein reizendes, schelmisches Lächeln umspielt ihren Mund, und ihre Augen strahlen und glänzen. Sie sieht, daß ihr zukünftiger Gatte sie wahrhaft liebt. Und wenn er sie gar zu überschwenglich bewundert, wagt sie sogar, an die Wunde zu rühren, und sagt lächelnd: „Uebertreibe doch nicht, Wolf! Es giebt viel Schönere als ich! Bitte, denke doch nur an die Prosceniumsloge!“

Wolf will aber davon nichts hören. Für ihn ist und bleibt sie die Schönste auf der Welt.



Blätter und Blüten.



Die ersten Abiturientinnen in Berlin. Wie wir schon wiederholt berichtet haben, macht die Sache des Frauenstudiums auch bei uns jetzt erhebliche Fortschritte. Einen weiteren Beweis dafür liefert die im Frühjahr von sechs Schülerinnen der „Gymnasialkurse“ von Fräulein Helene Lange abgelegte Reifeprüfung vor der königlichen Prüfungskommission eines Berliner Gymnasiums. Es hat sich in letzter Zeit überall die früher so schroff ablehnende Haltung der Behörden gegenüber den Frauenbestrebungen gemildert, in Berlin aber ist jetzt der Weg beschritten, auf welchem Begabte und Tüchtige zum medizinischen Studium in Deutschland gelangen können. Nicht zum kleinsten Teil ist dies das Verdienst der maßvollen Besonnenheit und Thatkraft, mit der die Führerinnen der Bewegung ihr langjähriges Streben verfolgten. Schon seit Jahren leitete die wahrhaft ausgezeichnete Helene Lange Realkurse für erwachsene Mädchen, zum Zweck der Vorbereitungen auf das medizinische Studium in Zürich; unter der Mitwirkung eines aus angesehensten Berliner Persönlichkeiten zusammengesetzten Komitees haben sich 1893 die Real- in Gymnasialkurse verwandelt, deren Lernstoff genau dem der Knabengymnasien entspricht, die aber für die künftigen Aerztinnen etwas mehr Naturwissenschaft in ihren Plan aufnahmen, als dort dem alten Herkommen gemäß getrieben wird. Die Schülerinnen treten mit 18 Jahren in diese Kurse ein, gelangen also, da der Kursus auf 31/2 bis 4 Jahre berechnet ist, ungefähr im gleichen Alter wie viele junge Männer auf die Universität, sie können in den zwei der Schule folgenden Jahren, also in dem Alter von 16 bis 18 Jahren, ihren Körper kräftigen, alle die praktischen und häuslichen Fertigkeiten erwerben, welche doch jedem weiblichen Wesen geläufig sein sollten, sie haben – und dies ist gewiß sehr wichtig – auf diese Weise auch volle Zeit, dem ernsten Schritt der Berufswahl reifliche Ueberlegung vorausgehen zu lassen. Wer in diesen zwei Jahren nicht imstande ist, die auf der Töchterschule erworbenen Kenntnisse zu bewahren, der besteht später die strenge Aufnahmeprüfung ins Gymnasium nicht und sieht, zu seinem eigenen Heil, die Illusionen über seine Leistungsfähigkeit zerstört.

Offenbar bewogen durch das abgelegte gute Examen der ersten sechs Gymnasiastinnen, hat nun der preußische Kultusminister neuerdings eine Verordnung erlassen, nach welcher den regelrechten Abiturientinnen auf eine Eingabe hin im Einvernehmen mit Professoren und Docenten der Besuch der Vorlesungen an der Universität gestattet werden kann. Es ist dies vorerst nur eine vorsichtig bedingte Erlaubnis; an den studierenden Mädchen wird es nun sein, durch Fähigkeit und Charakter das Vorurteil gegen weibliches Studium zu zerstreuen und ihren nachfolgenden Schwestern das als Recht zu erwerben, was für sie selbst heute ein hochwichtiges Geschenk bedeutet. Bn.     

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0387.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)