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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Fräulein Stübken!“ Und den Mantel, den ihr der Wind auseinander geweht, fest um sich ziehend, ließ Tante Emilie die Erstarrte stehen und schritt dem May’schen Hause zu, äußerlich eine Heldin, innerlich verzagter als je.

Sie trat übrigens nicht in das Haus ein, sie wandte sich vielmehr vor der Thür um und ging langsam unter seinen Fenstern zurück der Stadt zu, sie mußte wissen, ob es Wahrheit sei, was sie da eben erfahren.


Aenne war an diesem Tage wie an jedem andern gleich nach dem Essen ausgegangen, dem Wunsch der Mutter, daheim zu bleiben, war sie nicht nachgekommen, hatte ihn kaum gehört. Aber wenn auch, sie wäre doch gegangen, sie brauchte diese ungestörten Stunden, um mit sich selbst ins Reine zu kommen, um fest zu werden in dem, was sich allmählich in ihrer Seele gestaltet hatte. Sie war sich bewußt, daß sie ihrer Familie vollständig unbegreiflich sein müsse während dieser schrecklichen Zeit, in der sie der Spielball dieses inneren Kampfes war, und sie wunderte sich, daß die Eltern so viel Geduld mit ihr hatten, sie und Günther. Dieser sah sie zwar fragend und besorgt an, hatte aber niemals ein mißmutiges oder zweifelndes Wort für sie gehabt. Er begriff sie einfach nicht, aber er forschte auch nicht. Freilich, sie sahen sich selten genug; der Dienst beim Herzog nahm ihn völlig in Anspruch.

Den Plan, ihn zu fragen: Willst du mich auch ohne Liebe? hatte sie aufgegeben; sie wollte einfach nur ihre Freiheit von ihm fordern, bedingungslose Freiheit. Seitdem sie die Geschichte der Hochleitner kannte, seitdem sie in das freie und schaffensfreudige Leben der Künstlerin einen Einblick gethan, hatte auch sie nach Freiheit, nach Selbstbestimmung verlangt. Und von dem Tage an, da sie der Sängerin zum erstenmal in die kleine Wohnung gefolgt war, um ihr etwas vorzusingen, womit sie ein ehrliches glänzendes Lob erntete, beherrschte sie der Gedanke, Musik zu studieren. Ueber das, was in ihr vorging, sprach sie zu niemand, auch zu Fräulein Hochleitner nicht, aber aus der lachenden, offenherzigen Aenne war ein verschlossenes, trotziges Mädchen geworden. Sie wußte Fräulein Hochleitner immer wieder im Gespräch auf die Kunst, auf ihren Beruf, auf ihre dadurch erlangte Selbständigkeit zu bringen, und in ihren Augen glänzte es auf, wie wenn ein Durstiger den frischen ersehnten Wasserstrahl erblickt, so oft diese ein Lob auf Aennes Stimme mit denn Worten schloß. „Und so was will sich vergraben in Breitenfels, in der Ehe mit an Witwer, der drei Kinder hat – so a Stimm’, so a Persönlichkeit! Aber war denn niemand da, der Ihn’n gesagt hätte als Sie sich binden wollten gar so früh: bedenken Sie sich doch, Sie arm’s Hascherl, ’s is für immer! Man kann nimmer los von so einer Kett’n – und wann’s gelingt, bleibt ein großes Stück Jugendkraft und Frische, bleiben so viel goldene Illusionen d’ran hängen!“

Aenne pflegte auf die wiederholten Bemerkungen nichts weiter zu antworten als: „Ich habe es so gewollt.“

„Na, des Menschen Will ist sein Himmelreich! Aber schaun’s, die Reu’ wird net ausbleib’n!“

Aenne blieb diesmal eine Entgegnung schuldig, aber sie bettelte um ein wenig Unterricht. „Darf ich singen, liebstes Fräulein Hochleitner?“ Und sie sang an dem Klavier der Künstlerin und vergaß alles darüber, und allmählich war aus Aenne May eine begeisterte Schülerin geworden, die nun von der über sie immer mehr in Entzücken geratenden Lehrerin regelmäßigen Unterricht erhielt.

Und jeden Abend ging das Mädchen mit dem Gedanken zur Ruhe: morgen, morgen schreibe ich ihm! Sie lag schlaflos und grübelte über die möglichst milde Form ihrer Absage, und jede Nacht kämpfte sie im voraus den schweren unausbleiblichen Kampf durch, der ihr mit den Eltern und deren Vorurteilen bevorstand. Und jedesmal, wenn sie sich zur Ruhe philosophiert hatte, machten ihre Vorstellungen Halt vor der Frage; Was wird Heinz Kerkow sagen, wenn er erfährt, daß ich entlobt bin? – „Sie kann dich doch nicht vergessen,“ wird er sagen, „sie bringt es nicht fertig, den andern zu nehmen!“

Dann fuhr sie empor und fühlte ihr klopfendes Herz und die Schweißperlen auf der Stirn. Ach ja, er mußte es herausfühlen, daß ihre Verlobung eine Verzweiflungstat gewesen war, die zu Ende zu führen ihr die Kraft gebrach. Aber mochte er sagen, was er wollte, nur nicht sehen sollte er sie nach der Entlobung! Sie wollte weiter ertragen das Leben, das sie jetzt führte, zur Lüge und Komödie verdammt, bis er den Urlaub, den er zu seiner Hochzeitsreise erbeten, angetreten hatte! War er erst fern, dann würde sie mehr Mut und Ruhe finden zu dem, was sie thun mußte! In ihrem trotzigen Weh dachte sie nur an das, was sie litt, kein einziger Gedanke flog zu dem Manne, der die Tage zählte bis dahin, wo sie ihm folgen würde in sein Haus. Und so saß sie tagsüber und nähte an ihrer Ausstattung mit zusammengezogenen Brauen und hörte mit finsterem Schweigen an, wenn die Mutter erzählte, daß Günther ungeduldig die Abreise Seiner Hoheit herbeisehne. Neckereien brachten sie zu Thränen und Ermahnungen zu offenem Widerspruch, sie fühlte sich selbst hassenswert, und die befremdeten Gesichter der Ihrigen stachelten sie zu nervöser Gereiztheit. Aufatmen that sie erst, wenn sie am Instrument saß bei Fräulein Hochleitner.

Auch heute war sie förmlich geflohen aus dem elterlichen Hause und vor den Tischgesprächen, die sich um weiter nichts drehten als um die binnen acht Tagen bevorstehende Hochzeit des Fräuleins von Ribbeneck mit dem Hofmarschall. Die ganze Stadt sprach von nichts anderem, in jedem Laden wußten die Verkäuferinnen davon zu erzählen, die Näherinnen, die in die Häuser gingen, die Damen, die auf Besuch zu Mays kamen. Aenne mußte erfahren, wie lang die Schleppe am Brautkleid sein werde und welche Farbe die Brautjungfern zu ihrer Toilette gewählt hätten, es war, als habe sich alles verschworen, sie zu quälen.

Ganz rot vom eiligen Lauf und vor innerer Bewegung trat sie in das Stübchen der Künstlerin, die am Fenster saß und an einem altdeutschen Kostüm nähte, sie sollte darin das Gretchen singen im Gounodschen „Faust“.

„Schau,“ sagte diese fröhlich, „dös ist lieb, daß Sie kommen, Fräul’n May, der Mokka wird auf der Stell’ ferti sein, und mein G’wand’l da könn’n m’r glei anfang’n. Hier san d’ Noten, der Buchhändler hat s’ heut’ früh g’schickt, und da is a der Psalm, den i auf Befehl Ihrer Durchlaucht bei der Trauung vom klanen Kerkow in der Schloßkirch’n singen soll. Woll’n S’ so freundli sein und ’mal anseh’n, bis i da ferti bin? Es wär’ mir lieb, i höret glei a mal den Psalm, und versprech’ Ihn’n, wenn S’ so recht schön vom Blatt wegsingen, Ihre Trauung a mit meiner Stimm’ zu verherrlichn, daß Sie glei mei’n, a Engerl is extra vom Himmel ’runter kommen zu der Stund’!“

Aenne lächelte trüb. „Ach, dann sind Sie ja gar nicht mehr hier, Fräulein Hochleitner,“ sagte sie, ihr Jackett ablegend und die Pelzmütze hastig vom Kopf nehmend. „Bis jetzt ist der Tag übrigens noch nicht bestimmt.“

„Sie hab’n an merkwürdig geduld’gen Bräutigam, Klane! I glaube, i würd’s ihm übelnehmen an Ihrer Stell’. No, Sie scheinen halt selbst kein’ Eil’ zu hab’n, i aber desto mehr, mit dem Mokka, man’ i. Därf i bitt’n, Fräul’n May, schenken S’ ein, derweil sitzt das Streiferl hier wieder fest.“

Es war unendlich gemütlich in dem von einem herrlichen Maiglöckchenstrauß durchdufteten kleinen Raum. Die spießbürgerliche Einrichtung des Zimmers verschwand ganz unter allerhand anmutigem Tand, auf jedem Sitzmöbel lag irgend etwas, das Klavier stand offen, einige Notenblätter waren zur Erde gefallen, ohne daß sich jemand nach ihnen gebückt hätte, und auf dem verblichenen Teppich zerknabberte Azorl, der reizende weiße, sehr verzogene Seidenspitz, einen Pantoffel seiner Herrin.

Aenne schenkte den Kaffee ein aus der kleinen silberglänzenden Wiener Maschine, und dann saß sie ein paar Minuten schwelgend ihrer bewunderten Lehrerin gegenüber und sah den flinken Händen zu.

„No?“ fragte diese, erstaunt ob der Stille, und sah das Mädchen an. „Wia schau’n S’ denn aus? Alle Tag’ blässer und alle Tag’ trübseliger? Ja, was heißt denn dös? Wissen’ S, manchmal hab’ i schon ’dacht“ – sie stockte und vollendete dann, „daß S’ Angst hab’n vor der Zukunft, Sie arm’s Hascherl!“

Aenne sah sie traurig an.

„Ja, lieber Gott, ’s is eben a sehr schwerer Schritt,“ fügte die Sängerin hinzu.

Aenne biß die Lippen aufeinander und schluckte an ungestüm

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_103.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2016)