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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Seegestade wiedersehen sollte. „Es soll mich doch wundern wie sie geworden ist,“ dachte er. – –

Dem ersehnten waren schon drei, vier frohe Morgen gefolgt, die beiden ungleichen Reisegefährten waren von dem Buchenwald am Seestrande schon wieder viel weiter entfernt als von dem stillen Vorstadtgarten mit den Kapuzinerkressen, und noch war Hans Ritter des Wunderns nicht „Meister“ geworden. Es war ein glückseliges Wunder, das ihn immer von neuem gefangen nahm, wenn die schlanke biegsame Mädchengestalt leichtfüßig, den Wanderhut am Arm, neben ihm herschritt, wenn er sie auf schmalem Wald- und Bergpfad vorantreten ließ, um sich von der reinen Melodie ihrer sicheren und anmutigen Bewegungen, ihrer ganz eigenen, freien und unbewußt stolzen Haltung entzücken zu lassen, wenn sie dann lachend den weißen, nach der Mode des Jahres unbedeckten Hals und das von dicken goldrot glänzenden Flechten gekrönte Köpfchen zu ihm zurückwandte und die klaren, treuen Augen lebhafter noch als ihre helle Stimme so viel Liebes und Frohes zu erzählen wußten und wenn die alte Pilzsammlerin im Walde ihnen auf ihre Frage nach dem rechten Weg zur Ruine freundlich grinsend Auskunft gab: „Gehen Sie nur so weiter, Sie können’s nicht verfehlen, das andere junge Pärchen ist auch schon vorausgegangen!“ Grete faßte die Hand ihres Paten und sah ihn lachend an, wenn sie dabei errötete, war es wohl nur vor Freude und Wanderlust. Ihn aber überlief es wunderlich, als ihm aus dem Mißverständnis der Alten zuerst deutlich mit fremder Stimme ein Gedanke entgegenklang, der heimlich und scheu während dieser Tage in ihm erwacht war – so seltsam und so fernab von allem, was sein Gefühl für Grete bisher bestimmt hatte, daß er ihm kaum ins Antlitz zu sehen wagte! Er bezwang sich, sein Benehmen gegen sie wurde förmlicher, minder unbefangen ein paarmal fiel es ihr sehr auf, sie dachte nach, womit sie ihn wohl verstimmt haben konnte, und war nun absichtlich erst recht lieb und zärtlich zu ihm. Als sie sich abends trennten, faßte sie ihn schmeichelnd bei den Händen. „Bist du mir böse? Hab’ ich etwas verkehrt gemacht?“ Er wandte sich ab. „Nicht doch, Kind! Ich bin vielleicht etwas müde. Aber du mußt mich nicht so fragen. Es wird vergehen.“

Aber es kam wieder, in der Einsamkeit der Nacht, nun schon beherzter, mit Gründen und mit Beispielen, an denen es in der akademischen Gesellschaft nicht fehlte und mit denen sie sich regelmäßig nach kurzem ausgesöhnt hatten, selbst mit dem längsten Falle des Geheimen Medizinalrats Weitzel, der sich vor anderthalb Jahren in seinem hundertunddreißigsten Semester mit einer Freundin seiner jüngsten Tochter vermählte. Der Doktor Hans Ritter hatte die beiden noch neulich durch die Allee wandeln gesehen. Sie schienen äußerst zufrieden und eine ländliche Schöne mit bunten Bändern an der Haube schob vor ihnen ein Korbwägelchen her, auf dessen schreienden Insassen sich das faltige graubärtige Antlitz des berühmten Klinikers mit einem unbeschreiblichen Stolze richtete …

Nach dem Urteil der Welt fragte der Doktor Hans Ritter noch weniger als der Geheime Medizinalrat Weitzel, aber an Selbstbewußtsein kam er ihm nicht völlig gleich. Es gelang ihm nicht, sich mit Bestimmtheit ein Recht auf Besitz und eine Fähigkeit des Beglückens zuzusprechen, die der Geheime Medizinalrat auch beim zweitenmal allem Weinen und Kopfschütteln der Seinen zum Trotz ebenso unbedenklich für sich in Anspruch genommen hatte wie fünfunddreißig Jahre zuvor beim erstenmal. Der Geheime Medizinalrat hatte eben nur immer erwogen, was er alles bieten konnte, der Doktor Hans Ritter ermaß, was er alles zu begehren wagte, und das Wagnis erschien ihm auch dann nicht geringer, wenn ihm eine schmeichelnde Stimme zuflüsterte, daß dies Begehrenswerte ja doch größenteils durch ihn erst so köstlich geworden sei. Denn nicht für sich hatte er es bisher gepflegt und behütet in wunschloser Hingabe hatte er nur die Stelle der Toten zu vertreten getrachtet, die Stelle des Freundes und derer, die er geliebt und der er nur entsagt hatte, um sie in einem reineren Sinne fortzulieben. War es die Krönung seines Werkes, wenn er das Geschaffene behielt, um es nicht in fremde, minder sorgsame Hände fallen zu sehen? Oder war es der Widerruf alles dessen, was er für Recht erkannt und geübt hatte, wenn er nach einem halben Menschenalter freiwilligen Wirkens plötzlich die Rechnung vorwies und das ganze Werk als Preis einzog?

Vor dieser Zweifelsfrage irrte das Gewissen ängstlich hin und her, aber eine andere Macht, welcher der Philosoph Hans Ritter bisher niemals ein Recht auf Entscheidung eingeräumt hatte, begann listig nachzuhelfen und als Grete zum erstenmal nach zwei Jahren wieder durch das Gartenpförtchen trat und ausrief: „Ach, unser altes, liebes Haus! Hier ist es doch am schönsten, hier möcht’ ich immer bleiben!“ – da klang das bedeutsame Wort schon bestimmter in der Seele des Mannes wieder als vier Tage zuvor jenes erste Omen im thüringischen Tannenwalde. „Unser Haus!“ sagte er leise und sah sie traumhaft vergessen an. Ihre Augen erwiderten seinen Blick mit unschuldiger, glücklicher Zärtlichkeit. – Aber da kam auch schon die gute Luise zur Begrüßung herbei – – und Wöppy, das liebe, einzige, reizende Hündchen. – – –

17.

Nun hatte sie die erste Nacht wieder in „unserem Hause“ geschlafen und zuerst wieder den von seiner Bibliothek heimkehrenden Paten mittags an „unserem Gartenthürchen“ erwartet, um mit ihm zuerst wieder an „unserem Tische“ zu speisen und nach dem Mittagsmahl waren sie hinaufgestiegen zu „unserem Weinberghäuschen,“ wo der Doktor Hans Ritter besonders an schönen Herbstnachmittagen am liebsten sann und dichtete. Dort hatten sie sich getrennt, Grete wandelte längs der Höhe weiter nach der anderen Seite des Bergvorsprungs, an dessen Fuße dort Fräulein Martha Weber seit einigen Jahre einen grasreichen Baumgarten als Erholungs- und Spielplatz für ihre Mädchen besaß, und Hans Ritter blieb einstweilen zurück, um angeblich noch ein Stündchen zu „arbeiten“. Sehr gewissenhaft hatte er einen weißen Bogen Papier mit allem Schreibwerkzeug auf dem kleinen Tische zurechtgelegt, das weiße Blatt war nach einer halben Stunde noch so leer wie zuvor, als sich die Thüre plötzlich vor einem höchst unvermuteten Besuch öffnete.

„Sieh da! Willkommen, mein Junge! Daran hätte ich wirklich nicht gedacht,“ rief der Doktor Hans Ritter, sehr erfreut und doch auch etwas verlegen, denn er hatte seit einige Tagen überhaupt viel weniger als sonst an den Studiosus Karl von Seedorf gedacht und ihn keineswegs hergewünscht. „Ich glaubte dich kaum vor Ende des Monats erwarten zu sollen. Es ist doch nichts vorgefallen? Du siehst etwas angegriffen aus.“

„O nein“, sagte Karl. „Ich – ich bin nur eher fertig geworden weißt du, und da dachte ich, je eher ich – –“

„Du weißt ja, wie willkommen du immer bist“, warf der Doktor Hans Ritter ein. Es fiel ihm auf, wie verlegen Karl war, und damit wuchs seine eigene Verlegenheit. „Luise hat dir wohl gesagt, daß wir hier oben seien? Grete ist schon voraus zu Webers, nach dem Baumgarten, weißt du – –.“

„Ja,“ antwortete Karl und spielte mit der dargebotenen Cigarre, ohne sie anzuzünden. „Du, Onkel Hans,“ begann er dann plötzlich entschlossen, „ich muß dir etwas erzählen. Du kennst ja die Frau Geheimrat Hermann, ihr Mann ist mit meinem Professor Stubinger noch von der Studentenzeit her befreundet, und daher verkehren auch die Familien noch miteinander, obgleich man sich nichts Verschiedeneres denken kann. Diesen Sommer war ihre älteste Tochter, die lange Elise, ein paar Wochen bei Stubingers zu Besuch; sie hat uns mit ihrer unglückseligen Koketterie unglaublich gequält, und ich glaube, unser Professor und seine prächtige Frau waren auch froh, als sie wieder einmal unverlobt abzog. Gestern mittag war ich nun bei Stubingers eingeladen – wir waren gerade am Abend vorher mit dem Professor von einem achttägigen Studienausflug heimgekehrt – und da treffe ich auch die Frau Geheimrat; sie ist jetzt mit ihrem Manne da, der dort auf der Bibliothek irgend etwas bearbeitet. Sie redet mir erst allerlei von ihrer Elise vor, und ich muß wohl nicht nach Wunsch darauf reagiert haben, denn auf einmal setzt sie so ein säuerliches Lächeln auf und sagt: „Nun, dem Herrn Doktor Ritter wird man nun wohl bald gratulieren können.“ „Wozu?“ frage ich verwundert. Und da sagt sie … aber bitte, Onkel, hör’ mich ruhig an … sie sagt … du wollest dich verheiraten … mit unserer Grete! Und du hättest es ihr selber gesagt.“

„Ich hätte ihr das gesagt?“

„Ja, nicht wahr?“ fuhr Karl fort. „Ich bestritt ihr das natürlich auch, und es mag sein, daß ich mich etwas vergessen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_143.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)