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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Der Medizinalrat verfügte über Eintrittskarten für die Hofkirche, wie sämtliche Beamte des Hofes und die Honoratioren der kleinen Residenz. Für die Damen bedeutete das: elegante Visitentoilette, soweit die Begriffe von Eleganz in Breitenfels reichten; für die Herren: Frack und Cylinder. Zu sehen gab’s entschieden etwas, seit ewigen Zeiten war da droben in dem stillen Witwenleben nicht eine offizielle Festlichkeit gewesen.

Um halb zwei Uhr sollte die Trauung stattfinden, der ein kleines Festmahl im engsten Zirkel folgte; auf vier Uhr bereits war die Abreise des jungen Paares bestimmt.

Die Rätin klagte während der Toilette – das unvermeidliche Schwarzseidene war wieder aus dem Schrank geholt – über Reißen, es sei ungesundes Wetter, und die Jungen, die mittlerweile abgefahren waren, würden im Schneewasser wieder heimkommen. Es war in der That ein trüber, warmer Tag, die Schneedecke zeigte siebartig zahllose kleine Löcher, die der leichte mit Schnee untermischte Regen verursacht hatte, und in der Dachrinne gluckste und tropfte es. Um Mittag war es fast finster.

Aenne befand sich in ihrem Stübchen. Sie hatte ein gelblich-weißes Kaschmirkleid angelegt, kindlich einfach in der Form, faltige Bluse und faltige weite Aermel, und einen schmalen blauen Gürtel um die Taille. Sie wartete auf den Boten, der ihr die Nachricht von der plötzlichen Heiserkeit des Fräulein Hochleitner bringen sollte, und sie ward so blaß wie ihr Kleid, als sie endlich unten die Klingel hörte.

Dann Rufen nach ihr, eilige Schritte, das Rauschen eines Seidenkleides. „Das ist eine nette Geschichte“ – mit diesen Worten riß Frau Rat die Thür auf – „die Hochleitner ist krank geworden, die Friedrich nirgend zu finden! Ob du nicht den Psalm singen willst? lassen sie fragen – – als ob das so ginge! Wirst du’s können? Wenn du dich getraust, sollst du sofort in die Kirche kommen, läßt der Organist sagen, um noch einmal mit der Orgel zu proben.

„Wenn ich den Leuten aus der Verlegenheit helfen kann, sehr gern,“ sagte Aenne, nahm gelassen ihren weißen, mit Schwan besetzten Umhang vom Bett und folgte der Mutter.

„Ein Wagen steht drunten!“ rief die aufgeregte Frau. „Gott im Himmel – wenn du nun die Sache umwirfst – sag’s doch lieber ab, bedenke doch die Herrschaften, die zugegen sind!“ „Ich habe schon öfter vor ihnen gesungen,“ wandte Aenne ein.“ „Ja, nun ja! Aber wenn du plötzlich nicht weiter kannst, dann giebt’ s wieder eine Klatscherei, sie sagen womöglich, du habest aus Verzweiflung um den Heinz – –“

Aenne wandte sich nach ihrer Mutter um. „Ich werde nicht stecken bleiben,“ sagte sie kurz und hart, obgleich in ihrem Herzen die Zweifel stärker waren als je.

Im nächsten Augenblick saß sie in den Polstern des Hofwagens und rollte der Schloßkirche zu, die, dem Mittelbau des Schlosses angefügt, nach der Gartenseite zu lag. Ein wahres Kleinod der Spätgotik, gut erhalten und verständnisvoll restauriert, bildete sie so ziemlich die einzige Sehenswürdigkeit des Städtchens in künstlerischer Beziehung und wurde viel besucht von Architekten und Malern. Mit schlank aufstrebenden Säulen und herrlichen Spitzbogengewölben erschien sie wie ein Freiburger Münster im kleinen. Nur das Innere des Gotteshauses machte einen so günstigen Eindruck, denn das Portal war in späterer Zeit miteingebaut in das Schloß. Man passierte, um in die Kirche zu gelangen, die große Halle im Erdgeschoß des Mittelbaues; direkt von dem darüber befindlichen Festsaal konnte die herzogliche Familie sich in die für sie bestimmte Empore der Kirche, den sogenannten Fürstenstuhl, begeben.

Als Aenne durch die hohe Spitzbogenthür in den tief dämmerigen Raum trat – das matte Tageslicht vermochte kaum durch die gemalten Scheiben zu dringen – war das schöne Gotteshaus noch leer, nur um den reich mit Orangerie geschmückten Altar beschäftigten sich noch mehrere Diener, und mit geräuschloser Eile wurden Kerzen auf die riesigen Messingkronleuchter und die Kandelaber gesteckt. Der hohe Raum war ganz erfüllt von Blütenduft, dieser entstieg den mächtigen Orangenbäumen, deren Kübel mit den Landesfarben bemalt waren. Die gewundene Treppe herab von der Orgelempore kam dem jungen Mädchen mit allen Zeichen des Bangens der weißhaarige alte Organist entgegen. „Gott sei Lob, daß Sie da sind, Fräulein May! Stockheiser, die Hochleitner, und die Friedrich nicht zu finden, weder in ihrer Wohnung noch im Theater – der Himmel mag wissen, wo sie steckt! Haben Sie Furcht, Aenne?“

Er kannte das Mädchen wie sein eigen Kind. Ihre Stimme war schon manchmal von dort droben erklungen, als kleines Mädchen hatte Aenne schon beim Weihnachtsgottesdienst ihr helles Stimmchen in der Engelverkündigung erschallen lassen „Ehre sei Gott in der Höhe!“

„Wollen wir schnell einmal proben?“

„Wenn Sie es für nötig halten,“ antwortete sie, „mir ist der Psalm vertraut.“

„Wirklich? Mir fällt ein Stein vom Herzen! Sie kennen ganz genau die Stelle, wo Sie einzusetzen haben?“

„Ganz genau!“ Und sie lächelte ihn an, daß der alte verzweifelnde Mensch ordentlich wieder Farbe bekam. „Aengstigen Sie sich nur nicht,“ sprach sie tapfer, „ich mache Ihnen keine Schande.“

„Guten Tag, meine Damen! Die Hochleitner ist krank, Fräulein May hat die Freundlichkeit, uns auszuhelfen mit der Solopartie,“ wandte er sich an die versammelten weiblichen Mitglieder des städtischen Gesangvereins, dessen Direktor er war. Sie harrten auf der Empore vor der Orgel und keine einzige befand sich unter ihnen, die nicht das allerverblüffteste Gesicht machte, ob dieser Mitteilung.

Und Aenne, über deren jüngste Erlebnisse jede einzelne hergefallen war und sie nach Möglichkeit beschwatzt, bekrittelt und herabgewürdigt hatte, stand ruhig lächelnd da in ihrem weißen Kleidchen, wie eine sieggewohnte Primadonna. Wie viel Kraft sie dazu nötig hatte, das brauchte ja niemand zu wissen!

„Könntest du singen?“ fragte Fräulein Krause ihre Freundin Ida Sillig, „könntest du singen, wenn deine Liebe mit einer Andern getraut würde?“

Und die Andere meinte: „Wer weiß denn, ob’s wahr ist? Ich könnt’ nicht singen, ich würde entweder ohnmächtig, oder – ich“ Was sie thun würde, verschwieg sie, aber ihre Finger hatten sich gebogen, und ihre Augen funkelten vor Zorn bei dem bloßen Gedanken, daß ihr heimlich Angebeteter, der Provisor in des Vaters Apotheke, sich unterstehen könnte, ihr untreu zu werden.

Die Kerzen brannten jetzt, das Publikum wurde eingelassen. Seitwärts, unter dem Herzogsstuhl, war die Flügelthüre zu der Halle des Schlosses geöffnet, von welcher ein paar Stufen in die Kirche hinunterführten, die Lakaien posierten sich davor, der Weg bis zum Altar war mit roten dicken Teppichen belegt.

„Wird die Herzogin zugegen sein?“ wisperten die Damen.

Aenne gab Auskunft. Durchlaucht sei nicht wohl genug, der Medizinalrat schon in aller Frühe hinaufgeholt worden, die hohe Frau klage über Asthma.

Nun erdröhnten die Kirchenglocken über ihnen mächtig und laut, Heinz Kerkows Fest begann. In dem Gotteshaus war kein Platz leer geblieben. Aenne sah auch ihre Mutter und neben ihr Tante Emilie, die Aennes Einlaßkarte benutzt hatte, in einem altmodischen Crêpe-de-Chine-Tuch und ihrer besten Blondenhaube; der Vater, mit ein paar Orden geschmückt, saß hinter ihnen.

Plötzlich wurden alle Hälse lang, man mühte sich, seitwärts in den Eingang zum Schlosse zu blicken. Einige Lakaien traten nach vorn und stellten sich, Spalier bildend, zu den andern, dann kam die Hofdame Frau von Gruber in bordeauxroter mit Pelz verbrämter Sammetrobe, geführt von einem alten Herrn in Generalsuniform, einem Onkel der Braut, dann noch einige ältere Paare und ein blasses Mädchen im schlichten weißen Kleid am Arm eines älteren Kavaliers.

Aenne starrte teilnahmlos die Menschen an, wie sie langsam über den mit grünen Zweigen bestreuten Teppich dem Altar sich näherten. Und auf einmal zuckte sie zusammen und griff mit der Hand zum Herzen. Hinter ihr in jubelnden Tönen war die Orgel erbraust – das Brautpaar schritt die Stufen hinunter. Sie fühlte, wie ihr die Stirn feucht wurde, schwindelnd hielt sie sich an der Galerie des Chors, in dessen Mitte sie stand, und mit weit geöffneten Augen starrte sie hinab auf den Mann, an dessen Arm die in Spitzen, Atlas und Tüll gekleidete bräutliche Gestalt ging. Hatte sie sich zuviel zugetraut? Wie hilfesuchend irrten ihre Augen umher – sie trat zurück – „Fort! Fort!“ flüsterte sie.

Da trafen ihre Blicke die Augen einer alten Frau unten in dem Seitenschiff, die mit unsäglicher Bekümmernis zu ihr emporsah.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_150.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2019)