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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Schiffe bleibt mir auf ewig jenes Schiffchen des guten Großvaters, das ich an unserem Lattenzaun festgebunden hielt, bis es mir einmal bei starkem Regen von der Lauter davongetragen wurde.

Und gar der Garten selbst! Welch ein Stolz für mich, wenn ich dem Großvater mit der Richtschnur helfen durfte, seine Rabatten abzugrenzen, in die er im Frühjahr Salat und Petersilie säte. Zwar unsere höchste Pflanzung waren nur ein paar Königskerzen, dort gemeiniglich „Wollblumen“ genannt, mir aber imponierten sie gewaltig, wenn ich davor stand, denn sie überragten meinen eigenen Wuchs um ein Beträchtliches. Unsere Spargelstauden leben als dichte, von Märchen umsponnene Wälder in meiner Erinnerung.

Noch besser als mit dem Großvater verstand ich mich mit der Großmutter. Sie hatte ein wunderbares Geschick, mit Kindern umzugehen, oder vielmehr, sie fühlte sich mit ihren angegrauten Haaren selbst noch als Kind, deshalb war alles so lebendig, was aus ihrem Munde kam. Wenn sie ihr Lieblingsliedchen sang:

Hier sitz’ ich auf Rasen mit Veilchen bekränzt.
So lasset uns singen, so lasset uns springen,
Bis spät noch am Himmel der Abendstern glänzt. –

dann gingen die Wände des Zimmers auseinander, der Holzschemel, auf dem ich saß, wurde zum grünsten grünsten Rasenplatz, das gute Großmütterchen mit dem veilchenblauen Band auf der Haube verwandelte sich in eine der geputzten Schäferinnen aus Porzellan, die auf dem Rokokoschranke standen, es flatterte um mich her von weißen Kleidern und farbigen Bändern und ich meinte die zauberhafteste Musik zu vernehmen. Noch jetzt wird mir ganz mozartisch zu Mut, wenn ich daran denke. Der Abendstern muß in jenen Zeiten noch ein ganz anderer Abendstern gewesen sein, er steht jetzt so hoch und fremd am Himmel, damals war er ganz nahe, ein wunderbares zackiges goldenes Ding, das mir gehörte.

Ueberhaupt war es eine meiner Eigentümlichkeiten, daß die Worte eine körperliche Existenz für mich hatten, besonders solche, die ich nicht verstand, und zuweilen stiegen aus einem derartigen unverstandenen Wort die wunderbarsten Phantasmagorien herauf. Einer solchen verdankte ich auch meine schönste und doch auch unglücklichste Erinnerung.

Die Großmutter sagte nämlich eines Abends zu mir: „Morgen ist venetianische Nacht im Aktiengarten und wenn unser Edi recht artig ist, so darf er auch mit.“

Die Pracht dieser nie gehörten Worte erregte meine Phantasie aufs mächtigste. Ich konnte die Nacht kaum schlafen vor Erwartung. Dachte ich an die ‚venetianische Nacht’, so schwebte mir ein sammetschwarzer Grund mit wundersamem Goldgeflimmer vor und das noch unverständlichere Wort „Aktiengarten“ versetzte mich geradezu ins Feenreich.

Der nächste Tag wollte kein Ende nehmen und ich verbrachte die Zeit mit Minutenzählen. Endlich wurde es Abend, man zog mir meine besten Kleider an, Großmutter schmückte sich mit ihrer raschelnden seidenen Mantille und mit einem merkwürdigen Ungetüm von Hut, das nur bei den größten Gelegenheiten zum Vorschein kam.

Dann ging es zur Stadt hinaus, über die Lauterbrücke, einen mit Kies bestreuten Fußweg zwischen Wiesen entlang, bis uns hinter Bäumen ein farbiges Lichtmeer entgegenschimmerte – und der Aktiengarten lag vor meinen Augen.

Eine Transparentschrift, die ich noch nicht lesen konnte, stand über der Eingangsthür und innen wimmelte es von geputzter Menschheit. Kleine Mädchen in weißen Kleidern gingen sittsam neben den Großen her, die Jungen meines Alters drängten sich zwischen den Beinen der Erwachsenen durch, ich selbst wurde von Großmama an der Hand geführt, damit ich nicht entwischte. Viele saßen auch schon an den ungedeckten hölzernen Tischen und von außen drängten neue Scharen nach; ich hatte nie so viele Menschen beisammen gesehen.

Es war ein unvergeßlicher Anblick. Man hat mir später versichert, der Aktiengarten sei um jene Zeit wenig mehr als eine dürftig angepflanzte, mit einem hölzernen Zaun umgebene Kieswüste gewesen, für meine Augen aber war das Feenreich aufgethan! Farbige Papierlaternen hingen in den Zweigen, und an bekränzten und bewimpelten Pfählen glühten rote, blaue und grüne Glaskugeln, die von innen erleuchtet waren und aussahen wie Edelsteine.

Die Großeltern ließen sich an einem leeren Tische nieder, nicht weit von uns spielte die Musik auf einer mit grünen Reisern verkleideten Estrade, von der ein köstlicher Tannenduft ausging.

Es war trotz der vielen Lämpchen und Laternen nur mäßig hell, denn die Beleuchtungskunst stak dazumal noch in den Kinderschuhen, und besonders unten in der Tiefe des Gartens breitete sich wirklich jene schwarzsammetne Nacht mit dem wunderbaren Geflitter aus, von der ich geträumt hatte. Zuweilen blitzte ein heller Strahl darüber auf und etwas Weißes schimmerte durch die Dunkelheit. Dort unten ist erst die wahre ‚venetianische Nacht’ und dort müssen auch die Aktien sein, dachte ich bei mir und zappelte auf meinem Stuhl, denn Großmama hatte versprochen, mit mir die Runde durch den Garten zu machen. Nun aber hatte sich ein Bekannter des Großvaters zu uns gesetzt und die beiden alten Herren vertieften sich in ein Gespräch, an dem auch die Großmutter teilnahm. Es war von den Aktien die Rede, die ich noch gar nicht gesehen hatte, und aus der Unterhaltung ging hervor, daß eine davon dem Großvater gehörte, und daß sie in diesem Jahr zum erstenmal Früchte trügen. Dies regte meine Erwartung noch mehr an, das Stück Kuchen, das mir zur Tröstung in den Mund gesteckt wurde, vermochte mich nicht zu beschwichtigen. Unablässig zupfte ich die Großmutter am Rock und mahnte heimlich an ihr Versprechen, bis der Großvater, der gerade schlecht aufgelegt war, zu mir herüberdonnerte:

„Was hat denn der Bub’ heute abend, daß er nicht still sitzen kann? Gieb Ruhe, Bengel, oder –!“

Und als die Großmutter ein Wort für mich einlegen wollte, hieß es.

„Unsinn, er kann die dummen Lichter auch von seinem Stuhl aus sehen.“

Ich wagte mich nicht mehr zu rühren, doch meine Geduld half mir nicht das geringste, die Großen saßen wie festgewurzelt auf ihren Stühlen. Großmama blickte verlegen und wich meinen stehenden Augen aus. Endlich kamen noch zwei Damen mit ihren Arbeitskörbchen von den benachbarten Tischen zur Begrüßung herüber und versprachen eine große Seßhaftigkeit zu entwickeln. Da ertrug ich es nicht länger, ich ließ mich hinter den Falten der großmütterlichen Mantille vom Stuhl hinabgleiten, kroch ein paar Schritte am Boden hin und entwischte leise in die Dämmerung.

Ich durchstreifte den Garten auf eigene Hand, gaffte mit offenem Munde an jeder Papierlaterne empor und schwelgte in Entzücken. Eine Allee hoher Bäume durchschnitt den Garten der Länge nach, sie hatten silberglänzende Stämme und große Blätter wie die Platanen, und ich blickte mit Ahnungsschauern daran hiuauf, ob das wohl die Aktien seien, aber dafür sahen sie doch noch nicht merkwürdig genug aus. Diese Allee war am reichsten dekoriert, bunte Guirlanden schwangen sich von Baum zu Baum und die Papierlaternchen in den Zweigen warfen einen solchen Glanz auf den Weg, daß ich mir nicht getraute, auf dieser via triumphalis hinabzuschreiten, sondern mich vorsichtig im Schatten der Bäume hindrückte, jener sammetschwarzen Nacht mit dem blinkenden Strahl entgegen, die sich beim Näherkommen lichtete und mich ein mit Muscheln eingefaßtes Wasserbecken erkennen ließ. Ein Springquell stieg darin auf und der hintere Rand des Beckens, das mir wie ein großer See erschien, verlor sich in eine Tuffsteingrotte, worin eine nackte steinerne Figur auf einem Sockel von Felsblöcken stand und Wasser auszugießen schien. Die Grotte war dicht von Bäumen umgeben, in deren Zweigen große goldene und silberne Bälle hingen, und ein sanfter Schein verbreitete sich von dorther über das Wasser. Ich weiß nicht mehr, wie die Bäume aussahen, ich weiß nur, daß es augenblicklich mit untrüglicher Gewißheit in mir feststand: dieses sind die Aktien!

Mir wurde kalt vor Bewegung und ich kann noch jetzt in der Erinnerung die unbegreifliche Größe jenes Augenblicks nachfühlen. Ich dachte: ,Jetzt, jetzt muß es kommen’ – und hielt den Atem an. Was kommen sollte, wußte ich selber nicht. Erwartete ich, daß die Wunderbäume sich neigen und ihre märchenhaften Früchte über mich ausschütten würden – dachte ich, das Gestein der Grotte müsse auseinander gehen und ein Aladin mit der Wunderlampe hervortreten um mich in das geheimnisvolle Innere des Tuffsteinberges zu führen? Nein, was ich erwartete,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_214.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)