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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Nun, dann leb’ wohl, Heinz – es ist besser, du bleibst allein,“ sagte sie.

Er hielt ihr die Hand hin. „Sei nicht böse, Hede, mich quält vieles so sehr!“

„Wo werd’ ich dir böse sein, Heinz! Ich bin auch gar nicht gewöhnt, daß sich meinetwegen jemand geniert in seinen Launen“, lächelte sie.

Er sprang empor und sah erschreckt in ihr Gesicht, und sie blickte ihn an mit den ruhigen grauen Augen, in denen es nun feucht emporquoll.

„Meine arme Hede,“ sagte er und zog sie an sich.

„Mir fehlt gar nichts, Heinz,“ wehrte sie eifrig, „es geht mir so gut, viel zu gut, Heinz!“

Er nickte. „Ja, ja, nichts als ein bissel Sonne – man hat sich’s so anders vorgestellt, aber, es ist nichts, darüber zu reden, hast recht! Komm, Heini, wir begleiten die Tante durch den Park nach Hause!“

Er erfaßte den Handgriff des Wägelchens und die Geschwister wanderten langsam nebeneinander her durch den einsamen verlassenen Garten. Am Marstallthor trennten sie sich; Hede ging der Oberförsterei zu, Heinz fuhr seinen kleinen Kranken auf kürzestem Wege zum Schlosse empor.

„Bist du böse, Papa?“ fragte das Kind, als er dann stumm am Bettchen saß, nachdem das Mädchen. den Kleinen umgezogen, ihm seine Milch gebracht und ihn sein Gebet hatte sprechen lassen.

„Nein, mein Junge – wie kommst du darauf?“

„Du erzählst heute gar nichts.“

„Ich werde gleich anfangen, Heini, ich dachte mir, du wärest sehr müde.“

„Ja, Papa! Und du auch?“ „Ich auch, Heini“.

„Dann sollst du nicht erzählen, heute nicht, dann morgen abend. Vergiß, bitte, nicht, wo du aufhörtest, Papa – der junge Knappe machte sich gerade auf die Reise, um die schöne Prinzessin zu suchen, und sein Wams war aus blauem Atlas, und seine Rüstung von Silber mit einer goldnen Sonne auf der Brust.“

„Ich vergesse es nicht, Heini.“

„Findet er sie, Papa?“

„Ich hoffe doch, Heini.“

„Ich weiß, wie sie aussieht, Papa!“

„Wirklich?“

„Ja, wie die Dame, die mir gestern früh das Glas hielt mit der Milch – sie war so lieb, und die Augen glänzten so schön, und weinen kann sie auch, wie die Prinzessin.“

Heinz faßte nach der Hand des Kindes, er dachte, es phantasierte, aber die Augen des Kleinen sahen ruhig und klar zu ihm empor in dem Dämmerlicht der rotverschleierten Lampe.

Das Mädchen trat noch einmal herein mit einem Glas Citronenlimonade, die das Kind während der Nacht in kleinen Schlückchen zu trinken liebte.

„Wer war die Dame, die sich gestern im Park mit Heini beschäftigte?“ fragte Heinz.

„Ich habe sie zuerst nicht erkannt“, stotterte verlegen die Person, „aber die Förstersfrau, die ich nachher frug, meinte, es sei Medizinalrats Fräulein gewesen.“

Er nickte kurz und wandte sich zu dem Kinde. „Schlafe, mein liebes Herz,“ sagte er mühsam.

„Sie war so lieb“, versicherte der Kleine nochmals, als das Mädchen sich entfernt hatte, „und sie hat um mich geweint, Papa.“ Dann lag er ganz still, schloß nach einem Weilchen die Augen, und endlich schlief er. –

Es hatte neun Uhr geschlagen, als Heinz aus dem Zimmer schlich, um ihn nicht zu wecken. Er beorderte das Mädchen in die Nebenstube und ging hinüber nach dem Salon seiner Frau. Es war dunkel drinnen, die Fenster standen offen und draußen im Fliedergebüsch schlugen die Nachtigallen. „Bist du hier, Toni?“ fragte er.

Keine Antwort.

Er klopfte an die Thür ihres Schlafzimmers – keine Antwort. Sie wird bei Tante Gruber sein, sagte er sich und pochte eine Treppe tiefer an. Die ältliche Jungfer öffnete mit an die Lippen gelegtem Finger. „Gnä’ Frau haben Chloral genommen“, flüsterte sie, „und sind eben eingeschlafen.“

„Pardon“, sagte Heinz, „ich glaubte, meine Frau sei hier.“ „Frau von Kerkow ist wohl im Park, ich sah sie über den Schloßhof gehen,“ wisperte das Mädchen.

Heinz stutzte, sie war sonst so ängstlich abends. Er dankte, schritt die Treppen hinunter und betrat ebenfalls den Schloßgarten durch die Seitenpforte. Vielleicht fand er sie. Es lag ihm daran, sie noch zu sprechen, er hatte das drückende Gefühl, seit Jahren zu hart gegen sie gewesen zu sein; er durfte sie nicht weiter reizen durch Strenge und Gleichgültigkeit – er gedachte einzulenken, er mußte – es durfte so nicht weiter gehen! Er wollte dies alles, weil er sich selbst schuldig fühlte, weil er mit seiner Gewissenhaftigkeit, seiner peinlichen Pflichttreue nicht Schuld gegen Schuld setzen wollte, weil er einen Halt, eine Rettung in seiner Pflicht zu finden hoffte, Rettung gegen die alte heiße Liebe, die ihn jählings überfallen, seitdem er Aennes Namen wieder gehört, erfahren hatte, daß sie seiner noch gedachte. Sie hatte geweint über sein krankes Kind – warum mußte er das heute auch noch erfahren!

Und er wollte nicht wieder hinaus in die Stürme, aus denen er sich für immer gerettet glaubte, er wollte in der Wüste zu Grunde gehen, die er sich selbst geschaffen, die Toni ihm schuf. Er wollte ihr sagen. Wir gehören ja doch nun einmal zusammen um des Kindes willen laß uns in Gottes Namen Frieden halten nebeneinander! Ich will mich aufraffen aus dem Starrkrampf der letzten Jahre – es geht nicht länger so!

Er stürmte durch die Wege mit großen Schritten dunkel und schwül war die Nacht und die Nachtigallen schlugen lauter als je. In der Lindenallee setzte er sich auf eine Bank, vor ihm im Teich hielten die Frösche Konzert, als wollten sie die Nachtigallen überschreien. Ueber der dunklen Wasserfläche und der schwarzen Masse der Baumgipfel zuckte von Zeit zu Zeit ein fernes Wetterleuchten, die Lindenblüten dufteten stark und süß und der Märchenzauber legte sich wie betäubend um seine Sinne.

Er sagte sich noch ein paarmal, Toni müsse längst wieder droben sein, er wolle hinaufgehen, wolle mit ihr reden und blieb doch regungslos sitzen. Hinter ihm, durch die Allee fuhr im Schritt ein Wagen vorüber, und sich umwendend erkannte er den Hofwagen, mit dem Lieutenant Grellert nach der Kreisstadt gefahren war. Kutscher und Diener schwatzten miteinander, offenbar saß niemand darin, der Offizier hatte sie heimgeschickt, weil er drüben noch Gesellschaft gefunden – richtig, es fand ja ein Ball statt nach dem Konzert. Das hatte Toni nun alles versäumt! Natürlich, es war ja verrückt von ihm, diese Frau mit dem lebenslustigen Sinne zwingen zu wollen an das Siechbett ihres Kindes. Sie hatte die richtige Lebensauffassung! Zum Teufel, man macht es doch nicht besser mit dem ewigen Trübsalblasen, ändert nicht das Geringste und – was schadet’s denn, wenn der kleine Bursche dann und wann mit dem Mädchen allein bleibt? Nichts, gar nichts! – Dumme Sentimentalität ist’s, wenn man die Sachen nicht nehmen will, wie sie einmal liegen, ja ja! – –

Und er blieb sitzen und schalt auf sich und rüttelte sein Herz in der Brust zurecht und mühte sich, ihm etwas einzureden das er selbst nicht glauben wollte, und in diesem Widerstreit war es ihm, als ob plötzlich die Stimme des Kindes laut und deutlich sagte: „Und sie hat um mich geweint, Papa!“

Er sprang empor und schritt plan- und ziellos in den Park hinein, zuerst rasch dahinstürmend, dann langsam, immer langsamer, und plötzlich hielt er inne. Es herrschte tiefe Stille um ihm, die Nachtigallen waren verstummt und die Frösche auch. Er stand im Dunkel eines Baumganges, dicht vor ihm auf einer kleinen Lichtung erblickte er, kaum erkennbar, das geschweifte Dach des Theepavillons, und daraus scholl halblaut und doch deutlich, furchtbar deutlich, die Stimme Tonis!“

„Kurz und gut, ich sage es noch einmal, er hat Verdacht – sei vorsichtig!“

Und ebenso deutlich klang die Antwort „Zum Teufel auch, das ist peinlich!“

Eine Eiseskälte überfiel Heinz, und dabei ein Reiz zum Lachen über sich selbst – den dummen guten anständigen Kerl, der er war.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_223.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)