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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

den ganzen Spätnachmittag hatte er im Gusecker Viertel und am Nordgraben zu thun.

Inzwischen kam Doktor Ambrosius von links, über den Klottheimer Weg. Elma, die sich erwartungsvoll aus dem Fenster bog und ihren Blick auf die Ecke der Haingasse richtete, nahm ihn nicht wahr.

Der junge Arzt, ab und zu einen Gruß tauschend, wandelte eilfertig über das holprige Pflaster und machte erst unmittelbar an der Hausthüre Halt. Hier sah er nämlich, hinter den kleinen Blankscheiben der Wohnstube das kernhafte Gesicht Karl Wedekinds, der wie in tiefe Gedanken versunken hinausschaute in das bunte Gewimmel des Marktplatzes. Auf dem wohlgescheuerten Fensterbrett lag die Bibel. Dem Schreinersmann gegenüber saß Brigitta, sein treues Weib. Selber des Lesens unkundig, hatte sich Frau Brigitta von ihrem Ehewirt nach genossener Abendsuppe ein Stück aus dem Gotteswort vorlesen lassen. Jetzt schien sie in stiller, freudiger Andacht über den Text, den sie gehört hatte, nachzusinnen. Doktor Ambrosius kannte die allabendlich wiederkehrende fromme Gepflogenheit des redlichen Paares und hatte auch sonst nicht ohne Rührung beobachtet, wie diese tiefgläubige Frau ihren sonst leicht etwas überschäumenden Eheherrn freundlich in Schranken hielt. Karl Wedekind, obgleich seiner Ehehälfte an Wissen und scharfer Einsicht weit überlegen, hegte vor ihrem sanftgütigen Wesen eine Art ehrfürchtiger Scheu und liebte sie zärtlich; denn Brigitta eiferte nicht, sondern lenkte ihn ganz unmerklich wie an geheimen Fäden, war auch nicht kopfhängerisch, sondern allezeit frisch und vergnügt und zu jeder erlaubten Kurzweil gern aufgelegt. Doktor Ambrosius nickte den beiden vertraulich zu. Die Hausfrau bemerkte es nicht. Meister Wedekind aber erwiderte die Begrüßung mit franker Herzlichkeit.

Nun schritt Doktor Ambrosius über die Thorschwelle und durcheilte den halbhellen Treppenflur. Je drei Stufen zugleich nehmend, sprang er die steile Holzstiege hinan. Er öffnete das Mittelgemach und warf sein dunkles Barett auf die Ofenbank. In der gleichen Sekunde fuhr die ausschauhaltende Elma purpurglühend herum.

„Verzeiht!“ sprach sie verwirrt und zupfte an ihrem hellroten Schürzchen. „Ich hatte Euch gar nicht gehört. Ich hatte … Hier steht Euer Abendbrot.“

So wollte sie fort. Er aber faßte sie gutkameradschaftlich bei der Hand.

„Bleib’ doch ein wenig!“ sagte er zuthulich. „Gönn’ mir deine liebe Gesellschaft! Nein, schau, wie hübsch du das wieder da aufgebaut hast! Blühende Rosen! Weiß Gott, du verwöhnst mich, Elma!“

Sie lachte. „Die paar Blumen sind auch der Rede wert! Ob die da drunten im Hausgärtchen verwelken oder hier droben – das bleibt sich gleich.“

„Ach, du mußt nicht so dein Geschenk entwerten. Die Rosen sind wundervoll!“

„Nun ja. Weil Ihr doch gestern sagtet, daß Ihr sie gern hättet … Es macht mir halt Spaß … Aber ich will Euch nun weiter nicht stören. Ihr werdet wohl hungrig sein. Und Ihr müßt ja auch gleich wieder fort.“

„Freilich, Kind. Gegen halb Neun. Und ein wichtiger Gang zu einem Todsiechen. Doch so arg brennt’s noch nicht auf dem Nagel. Die Londoner Uhr da zeigt ja noch lange nicht Acht. Erzähl’ mir etwas, während ich hier zu Nacht speise! Oder iß hübsch mit! Dann schmeckt’s noch einmal so gut.“

„Ich dank’ Euch, Herr Doktor Ambrosius. Gegessen hab’ ich, und drunten giebt’s noch manches für mich zu thun.“

„So spät noch?“

„Ja. Und dann möcht’ ich auch noch auf ein Stündchen zu meiner Spielfreundin drüben im Bäckerhaus. Der hab’ ich’s versprochen.“

„Dann freilich … Also noch einmal; Dank für die Rosen! Kleine Elma, du hast eine Art …! Ganz allerliebst! Du wirst einmal eine prächtige Hausfrau.“

Wiederum stieg ihr das helle Blut bis in die Haarwurzeln.

„Ich? Nie!“

„Und warum nicht?“

„Weil ich im Leben nicht heirate!“

„Wie alt bist, du jetzt?“

„Fünfzehn war ich zu Ostern …“

„Da hör’ mir einer das weltmüde Persönchen! Will nicht heiraten oder verzweifelt daran. Eins ist ja genau so drollig wie’s andre! Nicht wahr, die Männer taugen heutzutag’ alle nichts? Nein, so was Urkomisches!“

„Ihr lacht mich aus, aber ich bleibe dabei. Nie, nie! Und das ist garstig von Euch, daß Ihr so Euer Gespött mit mir treibt. Gott befohlen!“

Halb weinend rannte sie weg.

„Elma! Kind! Du verstehst mich ja falsch! Bleib’ doch! Ich meinte ja nur …“

Elma hörte nicht mehr.

„Nun,“ dachte er achselzuckend, „ich kann’s nicht ändern. Vielleicht hab’ ich ihr Selbstgefühl unterschätzt. Fünfzehn Jahre! Da glaubt heutzutage ein Jungfräulein bereits mitreden zu können. Und ich behandle sie immer wie dreizehn. Ja, so sieht sie auch aus. Klein, zierlich, kaum flügge … Aber ein gutes Geschöpf! Nicht sonderlich hübsch, auch im Verkehr ab und zu etwas launisch, und dennoch von Herzen gut. So treue große leuchtende Augen …“ Diese Augen waren das schönste an ihr. Sie erinnerten fast an die Augen Hildegard Leutholds.

Doktor Ambrosius machte sich nun etwas zerstreut über sein Mahl her. Stirnrunzelnd füllte er das meergrüne Spitzglas trank es auf einen Zug leer und goß sich von neuem ein. Der Becher schien heute das einzige, was ihm mundete. Obgleich er Hunger verspürte, brachte er doch nur mühsam etliche Bissen Fleisch über die Lippen. Das Brot rührte er überhaupt nicht an. Es lag offenbar ein bänglicher Druck auf seinem Gemüt. Was er für heute abend vorhatte, das schien so gar nicht zu der goldrosigen Hoffnung zu passen, die seit einiger Zeit der Hauptinhalt seines glückseligen Daseins war. Er liebte die wonnige Hildegard Leuthold mit aller Glut seines unverdorbenen jungfrischen Mannesherzens und hatte Grund zu der Annahme, daß auch sie ihm nicht gram sei. Die Sehnsucht drängte ihn ungestüm zur Erklärung, zur Werbung. Und nun gab es da noch was anderes, Aelteres, Tod-Ernstes, was ihn eben so nachhaltig in Anspruch nahm; was von der Minne und ihren Lenzträumen weit ablag und trotzdem nicht versäumt werden durfte; denn sein Wort und seine Mannesehre waren hier unwiderruflich verpfändet; ein feierlich geleisteter Schwur band ihn und das heiligste Pflichtgefühl. Was er zu Elma von dem schwerkranken Patienten gesagt hatte, der noch spät seinen Besuch heische, war nur Ausrede gewesen. Ja, es handelte sich um einen Schwerkranken; aber dieser Patient lag nicht auf den Pfühlen des Siechbettes. Der Schwerkranke war das Gemeinwesen von Glaustädt, die leidende, im innersten Mark verwundete Heimat.

Nicht als ob Doktor Ambrosius seine Verpflichtung bereut hätte. Es fiel ihm nur schwer auf die Seele, daß sein beginnender Liebesfrühling gerade mit der Gefahr jener Anforderungen zusammentraf. Keine Sekunde lang war er im Zweifel darüber, daß er die gute Sache unter keiner Bedingung im Stich lassen würde. Nach kurzer Frist schob er den Teller zurück, leerte noch einmal den Glasbecher und trat, schwer atmend, zu dem geöffneten Fenster.

Das war ein belebtes, farbenprächtiges Bild da drunten. Spielende Kinder erfüllten die laue Luft mit ihrem schallenden Jauchzen. Bälle flogen und fröhliche Ringelreihen wurden getanzt. Auf den Steinbänken vor den Thüren saßen die Ehepaare. Jungfrauen und Jünglinge wanderten plaudernd über das Pflaster oder umstanden den alten Granitbrunnen, wo auf gedrungenem Sockel der heilige Georg den schweifringelnden Drachen erschlug. In der Richtung des Klottheimer Thores strömten noch immer zahlreiche Menschen nach auswärts, um den Glaustädter Bürgergarten oder die Wiesen des Gusecker Thals zu erreichen. Es war bis gegen Abend außerordentlich schwül gewesen. Jetzt erst wehte ein leichter Ostwind.

Beim Anblick der heiteren, buntbewegten Gruppen da unten stieg in der Seele des jungen Arztes eine plötzliche Bitternis auf. Er empfand es wie eine Schmach, daß der Mensch mit der Zeit so schlaff wird und so jämmerlich abgestumpft. Da wandelten sie leicht und arglos umher, als ob nicht stündlich die Faust des Henkers über jedem von diesen Häuptern schwebte! Es waren zumeist Handwerker und wohlhabende Kleinbürger, die jetzt mit ihren Familien den breiten Marktplatz füllten. In diesen Gesellschaftskreisen kürte sich Balthasar Noß, der Blutrichter,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_358.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2016)