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gleichen Weg. Zudem bat Gustav Ambrosius um die Erlaubnis, Herrn Leuthold und seine Tochter bis nach der Grossachstraße begleiten zu dürfen. Bei einer solchen Mondespracht im läßlichen Juni sei diese Wanderung an sich schon ein Hochgenuß.

Magister Leuthold und der Notar gingen voraus. Doktor Ambrosius mit Hildegard folgte. Mehr und mehr blieben die zwei zurück. Hildegard dachte schon längst nicht mehr des gräßlichen Blutrichters, dessen aufkeuchender Atem ihr beinahe die Stirn gestreift hatte. Ihr junges Herz war voll zum Zerspringen. Auch Doktor Ambrosius fühlte sich unaufhaltsam ergriffen. Das Haar Hildegards schimmerte unter dem weißen Licht wie ein Heiligenschein. Ihre Augen waren so groß und tief, ihre Lippen so glückverheißend. Ringsumher wogten und rauschten die unnennbaren Stimmen der Sommernacht, mehr geahnt als gehört, ein süß geheimnisvolles Weben und Flüstern, das die Seele zur Seele zwang.

Hingerissen von diesem Zauber, sprach denn Gustav Ambrosius das entscheidende Wort. Der Liebende warb, und Hildegard Leuthold gab sich dem Mann ihrer Wahl glückstrahlend zu eigen.

„Ja,“ klang es dann nochmals von ihrem bebenden Mund, als Doktor Ambrosius auch von ihr ein volles Bekenntnis heischte, „ja, ich habe Euch lieb. Ich will Euch allzeit eine treue Gefährtin sein, bis an mein Ende.“

„Und Euer Vater? Werd’ ich ihm gut genug dünken für sein herrliches Kleinod?“

„Er kennt Euch und liebt Euch. Er weiß, daß ich in Euren Armen wohl aufgehoben bin, jetzt und immerdar.“

Der junge Arzt schwieg. Ein leichtes Frösteln überrieselte ihn. Er gedachte des gefahrvollen Planes, in den er verwickelt war, dem er sich zugeschworen mit Eid und Manneswort. Eine Sekunde lang fragte er sich, ob er die Werbung vor Gott und seinem Gewissen verantworten könne. Er machte das holdselige Mädchen durch seine Annäherung, ja, mit teilhaftig all jener Schrecknisse, die ihm drohten, wenn die Verschwörung mißlang. Gleichviel! Er hatte nicht anders gekonnt! Lieben und sich geliebt fühlen und dann aus kalter Vernunft sich Schweigen gebieten und so vielleicht das geliebte Wesen verlieren, weil es in Zweifel gerät – nein, das überstieg seine Kraft! Und wenn das Geschick es wirklich wollte, daß alles fehlschlug, dann blieb ihm doch in der letzten Not ein himmlischer Trost: er hatte sie einmal wenigstens an sein pochendes Herz gezogen und das Bewußtsein genossen, daß sie mit Seele und Sinn ihm angehörte!

So scheuchte er denn die finstern Gedanken mannhaft hinweg. Er drückte ihr voll zärtlicher Inbrunst die Hand. Und da jetzt bei einer Biegung des Weges hochragendes Weidengebüsch ihn und Hildegard gegen die beiden Männer da vorn deckte, schloß er das aufglühende Mädchen stürmisch an seine Brust und küßte es lange und heiß auf die Lippen.

„Dein – diesseits und jenseits!“

Sie küßte ihn wieder.

„Dein – im Leben und Sterben!“

Als sie dann weiter schritten, hub er mit klarer, gefesteter Stimme an:

„So weit hat uns der Himmel geführt. Unser Bund ist geschlossen. Aber ich muß dir nun etwas mitteilen, was dich vielleicht überrascht. Nicht heute, nicht morgen werd’ ich vor deinen Vater treten, sondern erst nach Verlauf einiger Monate. Ich habe schwerwiegende Gründe hierfür, die ich dir jetzt noch nicht enthüllen kann. Bis dahin laß uns die Sache geheim halten!“

Hildegard sah voll Hingebung zu ihm auf. „Alles geschehe, wie du’s für gut findest!“ sagte sie mild lächelnd.

„Glaube mir,“ fuhr er bewegt fort, „wenn mich die Angst nicht verzehrt hätte, irgend ein anderer könnte mir doch noch zuvorkommen – ich hätte geschwiegen bis zu dem Zeitpunkte, wo ich auch gleich vor der Welt unser Glück offenbaren konnte. Aber es ging nicht länger. Ich mußte Gewißheit haben um jeden Preis!“

Die Gründe, die bei Doktor Ambrosius obwalteten, waren durchaus verständig und ehrenhaft. Einmal wollte er nicht, daß ihm die Stellung eines erklärten Bräutigams gesellschaftliche Verpflichtungen auferlege, die seine ohnehin stark in Anspruch genommene Zeit zum Nachteil des großen Verschwörungsplanes hätten beeinträchtigen können. Dann aber – und das war der Hauptgrund – trug er sich mit der Sorge, im Fall des Mißlingens möchte die öffentlich anerkannte Braut des Verschwörers und ihr Vater – nach der bekannten Logik des Balthasar Noß – mit ins Verderben gerissen und gleich ihm von der Rache der Blutmänner zermalmt werden.

Hildegard Leuthold hatte natürlich von alledem keine Ahnung. Ihr Vertrauen jedoch zu Doktor Ambrosius war so grenzenlos, daß die geringste neugierige Frage ihr ein Verbrechen gedünkt hätte. Mochte er’s mit seiner Brautwerbung halten, wie es ihm zweckmäßig schien! Sie war fest überzeugt, daß er in seiner untadligen Einsicht das Rechte schon treffen werde.

Am nächsten Kreuzweg verabschiedete sich der Notar Rolf Weigel. Doktor Ambrosius ging mit den Leutholds bis an die Wohnung. Hildegard mühte sich ehrlich, den etwas schweigsamen Vater mit ins Gespräch zu ziehen. Sie kam sogar auf das vorhin erwähnte Lustspiel des Plautus zurück und lobte die scharfsinnige Auffassung des kleinen buckligen Mannes, der in der Welt des klassischen Altertums so vollkommen zu Hause war.

Endlich war man am Ziel. Das schmiedeeiserne Thor knarrte.

„Gute Nacht!“

„Glückliche Ruhe!“ So trennte man sich.

Tief nachdenklich wanderte Doktor Ambrosius zurück nach der Stadt, wo ihn der eisgraue Thorwächter gähnend hereinließ. Wortlos behändigte er dem mißvergnügten Beamten das vorschriftsmäßige Geldstück.

Dann suchte er auf mancherlei Umwegen das Haus an dem alten, brunnenrauschenden Marktplatz auf.

Hildegard stand indessen noch geraume Zeit am geöffneten Fenster ihrer freundlichen Schlafkammer und schaute hinaus in die bläulich schimmernde Sommernacht. Der Mond schwebte jetzt hoch über den beiden gotischen Türmen der alten Marienkirche. Rechts drüben lag das Lynndorfer Gehölz – und weit in der Ferne ein mattglänzender Punkt, das Schieferdach der städtischen Waldschenke – alles schweigsam und friedlich und wie gebadet im strömenden Silber des Nachtgestirns. Hildegard preßte die Hand auf ihr klopfendes Herz.

Sie dachte ihrer verewigten Mutter. Das halbverblaßte Erinnerungsbild aus frühster Vergangenheit stand ihr mit einem Mal wie greifbar und neu belebt vor der Seele. Wenn ihre Mutter das mit erlebt hätte – diese unendliche Seligkeit ihres einzigen Kindes! Nun sah sie wohl aus verklärter Höhe auf die Beglückte herab und spendete auf den Schwingen des Mondlichts ihren himmlisch geheiligten Segen!

Nach einer Weile quoll es in Hildegards Brust auf wie unermeßliche Sehnsucht nach dem geliebten Vater, der ihr die Heimgegangene so treulich ersetzt hatte. Sie klinkte die Thür auf. Der Mond und die Kerze erhellten ein wenig das Dunkel des Treppenhauses. Ohne sich über ihr Vorhaben klar zu sein, schlich Hildegard auf den Zehen bis an des Vaters Schlafgemach, legte das Ohr an das Getäfel und lauschte. Auch er schlief noch nicht. Wie gern wäre sie eingetreten, um noch einmal an diesem unsäglich schönen Tage die Hand zu küssen, die so sanft leitete und so stark schützte. Aber sie durfte ja nicht! Der Vater würde sofort alles durchschaut haben. So preßte sie denn voll Inbrunst ihre glühenden Lippen auf das geschnitzte Holzwerk und hauchte unhörbar:

„Schlummere süß, du mein bester Freund! Du und ich und er – das soll uns ein Dasein werden wie ewiger Sonnenschein!“

In ihre Stube zurückgekehrt, sank sie, noch angekleidet, auf ihre Bettstatt und vergoß reichliche Thränen. Sie wußte selbst nicht, um was sie weinte. Aber es war ihr so weich ums Herz und die Tränen thaten ihr wohl. Lang’ erst nach Mitternacht schlief sie ein.

(Fortsetzung folgt.)


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