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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

auch sonst sich über Umstände, die von Bedeutung sein könnten, unterrichten. So blieben die beiden allein. Gerlind saß, den Kopf leicht über ihre Arbeit gebeugt, emsig bewegten die schmalen Finger sich hin und her. Von seitwärts sah Alban so die feine Linie ihres Rückens, von einem leichten, duftigen Geflock übernickt, vor sich; manchmal wandte er mit einer plötzlichen Bewegung den Blick davon ab, doch immer kehrten seine Augen bald wieder in die gleiche Richtung zurück. Sie sprach jetzt nicht, als ob ihre Näharbeit sie zu schweigsamem Nachdenken nötigte, aber auf die Dauer konnte er diese Lautlosigkeit in der Stube nicht ertragen, und dazu klopfte sein Herz so laut, daß er glaubte, sie müsse es hören. Er wollte ein Gespräch anfangen, doch wußte nicht, über was, endlich kam er auf ein Mittel, die Stille zu unterbrechen, und fragte: „Soll ich dir zu deiner Arbeit etwas vorlesen?“ Aufsehend antwortete sie freudig: „Ja“, und er nahm wahllos ein Buch von ihrem kleinen Bord. Die Eichendorffschen Gedichte waren’s, daraus begann er zu lesen. Ihm war gleichgültig, was, er wollte nur einen Ton in dem Raume hören, nicht weiter so stumm dasitzen. Aber der Zufall ließ ihn gleich ein Gedicht, das ihm besonders lieb war, aufschlagen, und wie er es anfing, konnte er doch nicht mit der gleichgültigen Stimme fortfahren, sondern legte unwillkürlich in ihren Klang die ganze Empfindung des Gedichts hinein. So las er:

„Aus der Heimat hinter den Blitzen rot
Da kommen die Wolken her;
Aber Vater und Mutter sind lange tot,
Es kennt mich dort keiner mehr.

Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit,
Da ruhe ich auch, und über mir
Rauschet die schöne Waldeinsamkeit
Und keiner mehr kennt mich auch hier.“

Wie er schwieg, blickte Gerlind auf und ihm ins Gesicht. Aus dem ihrigen sprach ein stummes Erstaunen, erst auf eine Frage Albans, worüber sie sich wundere, antwortete sie. „Ich habe nie vorlesen gehört – das Gedicht kannt’ ich wohl – aber Ihr habt’s gethan, als ob es von Euch selbst sei, oder Ihr müßtet’s erlebt haben. Das könnt nur Ihr – kein anderer –“

Sie hielt, wie leicht zusammenschreckend, inne, aus den Augenwinkeln drängte sich ihr ein feuchter Schimmer hervor und mit leiser Stimme setzte sie jetzt hinzu: „Verzeiht mir, ich dachte nicht dran – Eure Eltern sind ja beide auch tot –“

Hastig, als ob er die Erinnerung daran zurückdrängte, schlug er das Blatt um, begann etwas Neues zu lesen, ein Gedicht nach dem andern, wie er vorher die schweigsame Stille damit aufzuheben gesucht, so schien er nun zu vermeiden, daß er dem Mädchen wieder eine Aeußerung ermögliche. Doch Gerlind that auch keine mehr, vorgebeugt weiter arbeitend, hörte sie ohne Laut zu. Seine Augen nahmen nichts mehr von ihr wahr, unverwandt hielt er den Blick auf das Buch niedergerichtet. Nun klang’s durch die Stille:

„Es zog eine Hochzeit den Berg entlang;
Ich hörte die Vögel schlagen;
Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
Das war ein lustiges Jagen!

Der Bräutigam küßte die blasse Braut,
Die Mutter sprach leis: Nicht klagen;
Fortschmettert das Horn, durch die Schluchten laut,
Das war ein lustiges Jagen.

Und eh’ ich’s gedacht, war alles verhallt.
Die Nacht bedecket die Runde;
Nur von den Bergen noch rauschet der Wald –,
Und mich schauert’s im Herzensgrundes.“

Während der letzten Verse empfand Alban, daß sich das Licht um ihn verändere, helleren Glanz gewinne. Das ließ ihn unwillkürlich zum erstenmal nach langer Zeit wieder aufblicken und die Ursache erkennen. Die Nachmittagssonne, schon abendlich tief gesunken warf eine rötlich goldene Strahlengarbe durchs offenstehende Fenster. In den Lichtstrom eingetaucht, saß Gerlind, ein leiser Luftzug spielte mit dem Haar an ihren Schläfen. Sie arbeitete nicht, sondern hatte die Hände unbewegt auf dem Schoß ruhen; die Strahlen fielen ihr in die Augen, aber diese leuchteten nicht wie gestern im Glockenraum gleich blauen Edelsteinen, ein trübender Schleier schien vor ihnen zu liegen, durch den hindurch sie auch die Blendung heute nicht fühlte. Ohne Zucken der Wimpern sah sie reglos wie in ferne Weite hinaus.

Jetzt fuhr sie zusammen, Alban war mit einem plötzlichen Ruck vom Sitz aufgestanden. Doch das Geräusch eines Fußtrittes draußen vermischte sich damit, und Gerlind stieß hervor. „Es kommt jemand – geht schnell in die Kammer!“ Als er aber stehen blieb, that sie nicht, was sie am Morgen gethan, trotz der sichtbaren Angst in ihren Zügen griff sie nicht nach seiner Hand, ihn fortzuziehen sondern blieb ebenfalls, wie von einer seltsamen Scheu festgebannt, ohne Bewegung stehen. Ein paar Augenblicke, dann kam ihr vom Mund, der tief Atem schöpfte: „Gottlob, der Vater ist’s“, und Alban wiederholte: „Ja – dein Vater – gottlob!“

Der Türmer trat herein, er war befriedigt von dem, was er ausgekundet, und mehr noch von einer Veränderung im Aussehen des Himmels. Vieljährige Obacht ließ ihm außer Zweifel, daß sich das Wetter auf morgen verschlechtern werde. Doch für das Gelingen der Grenzüberschreitung war das günstig, der Alte fragte jetzt, ob Gerlind schon drunten gewesen sei, für die Abendkost einzukaufen. Sie schüttelte den Kopf und versetzte rasch, daß sie warten gewollt, bis er zurückkomme. Doch zu merken war’s, sie habe nicht daran gedacht; eilig ging sie nun, und Toralt beschrieb seinem Schutzbefohlenen die Wege und Oertlichkeiten, die am nächsten Abend für ihn in Betracht kamen. –

In der Nacht träumte dann Alban von dem, was ihm bevorstand. In Begleitung Gerlinds war er unterwegs, doch nicht zu Lande. Sie fuhren in einem Boot über den See und nicht Abenddunkel herrschte, sondern vor ihnen flog im Osten am Himmel ein rosiges Morgenrot auf. Dem trachteten sie entgegen, auch das Mädchen handhabte ein Ruder, und ihr gegenübersitzend, sah er sie stets gleichmäßig in einer schönen rhythmischen Bewegung sich vor- und zurückbiegen, es erinnerte ihn an den melodischen Klang eines Eichendorffschen Gedichtes. Beide sprachen sie nichts; er trug ein Wort auf den Lippen, aber hielt es zurück; er wollte es Gerlind erst sagen, wenn er drüben gelandet sein würde.

Da plötzlich schwankte das Boot, schweres Dunkel fiel vom Himmel, Sturm heulte und Wasser rauschte, und gleichzeitig raunte eine spöttische Stimme: „Das ist das Rauschen der schönen Waldeinsamkeit.“ Er sah nur noch, daß seine Begleiterin verschwunden war, er allein in dem Fahrzeug saß, und wachte dann auf. Doch das Brausen um ihn dauerte fort und ihm kam zum Verständnis, was es sei. Starke Windstöße trafen und rüttelten den Turm, die Voraussage Toralts bestätigte sich, und der Wind hatte dem Träumenden die Fahrt auf dem See, den Sturm, der das Boot zum Schwanke brachte, vorgetäuscht.

Graues Wolkengetriebe bedeckte den Himmel, doch den Augen Albans erschien der Tag in dem strahlenden Blau seines Frühlingstraumes. Er wußte nicht, ob ihm vor dem Herannahen des Abends bange, oder ob er es zu beschleunigen wünsche, bald so, bald so überkam’s ihn. Einem neuen Leben, dem wirklichen Leben erst, das er noch nicht gekannt, ging er entgegen, aber es beginnen, sich erringen und zu eigen machen konnte er nur drüben in der gesicherten Freiheit. Sie war der feste Boden, auf dem er erst stehen mußte, bis dahin schwankte sein Lebenskahn noch ungewiß, gebrechlich in Wind und Wellen.

Mit welchen Gedanken Gerlind dem Einbruch des Abends entgegensehe, ließ sich nicht erkennen; Zuversicht auf das glückliche Gelingen des Rettungswerks schien sie nicht mehr so fest zu hegen; ihr Gesicht war blasser als in den vorherigen Tagen und auch sonst eine Veränderung darin. In ihren Zügen lag keine Fröhlichkeit, und der kindliche Ausdruck sprach nicht mehr aus ihnen. Still ging sie umher, ihr Gehabe suchte etwas Scheues zu verbergen und offenbarte es gerade, wenn Alban zu ihr sprach. Es schien, auch ihr bange vor dem Kommen der Dunkelheit, und zugleich wünschte sie es ebenfalls rascher herbei. Ihre Hauptaufgabe den Tag über bildete das möglichst passende und täuschende Herrichten der Kleidungsstücke für Alban, daran war sie fast unablässig beschäftigt. Bisweilen war eine Wiederholung der Anprobe nötig, aber sie lachte und scherzte nicht dazu und ließ ihn sich selbst das Kleid überwerfen, ohne ihm dabei behilflich zu sein. So wie sie ihn nicht anblickte, vermied ihre Hand sorgfältig, ihn zu berühren.

Der Wind verstärkte und die Wolken verdichteten sich, früher als bisher begann die Dämmerung. Ab und zu kam es fragend von Albans Mund. „Es wird wohl Zeit?“ Doch der Turmwart war ein sicherer Mann der Uhr und erwiderte: „Nein, es

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_498.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)