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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

ist zu früh, noch nicht die verabredete Stunde. Nun aber mahnte er: „Jetzt müssen Sie die Kleider anziehen, und um einige Minuten später stand der junge Mann fertig in seiner weiblichen Verkleidung da. Der Arbeitseifer des Mädchens hatte bestes Erfolg erzielt, alles saß richtig, man glaubte, eine Frau in einfacher bürgerlicher Tracht vor sich zu haben, nur der hohe Wuchs fiel ein wenig auf. Das kurze Haar wurde, nach Landessitte, von einem Kopftuch verdeckt, das, fest geschürzt, auf den Nacken fiel und sich über die Stirn fast bis zu den Augen niederwölbte. Gerlind richtete in ihrer Kammer die Wäsche für den Korb her, während der zum Fortgang Gerüstete die Hand Toralts umschlossen hielt und ihm stotternden Tones den Dank für seine Hilfe wiederholte. Nun kam das Mädchen zurück und sagte. „Ich bin bereit.“ Bei dem Klang der Worte zuckte Alban zusammen und stieß plötzlich aus. „Nein – ich will – ich kann nicht – heute nicht – morgen abend wollen wir gehen!“ Er machte eine Bewegung, sich das Tuch vom Kopf zu lösen doch der Türmer entgegnete, ihm die Hand zurückhaltend: „Verlieren Sie den Mut? Das geht rasch vorbei, wenn Sie erst draußen sind. Morgen wär’s das gleiche, und heute ist das Wetter günstig und der Doktor wartet.“

„Wenn wir nicht kommen, wird er heimfahren.“ Bei Alban hatte der Drang, noch zu bleiben, im letzten Augenblick jäh die Oberhand gewonnen, der Alte zauderte kurz, dann aber versetzte er:

„Das wär’s nicht allein, doch morgen ist Feiertag und da ist’s wahrscheinlich, daß der Bräutigam der Linde heraufkommt.“

„Ihr – der Bräutigam – Ihrer Tochter –?“ Alban hatte mit der Hand nach dem Tisch neben sich gegriffen und halb bewußtlos das Wort wiederholt; der Türmer versetzte harmlos: „Das hätte ja nichts auf sich, wenn er nicht bei der Polizei und so pflichteifrig wäre, der junge Sergeant war’s, der vorgestern im Turm bei Ihnen vorbeistieg. Ich wollt’ nicht davon sprechen, es hätt’ Sie vielleicht doch beunruhigt – ohne Grund, denn er ist ein braver Mensch, der die Linde sehr gerne hat. Im Herbst soll die Hochzeit sein. Ich bin nicht der Stärkste, sehe gesünder aus, als ich es bin, da mußt’ ich weiter für das Kind denken und habe Ja gesagt. Nun aber dürfen Sie wegen des Doktors keine Zeit mehr verlieren! …“

*  *  *

Nun ging Alban Hartlaub draußen auf einer Straße. Er hatte keine Erinnerung daran, wie er die Turmtreppe herabgekommen sei, mechanisch hielt seine linke Hand den Griff des Korbes, den Gerlind auf der anderen Seite trug. Sie sprach nichts, möglichst unbemerkt zu bleiben, war geraten. Nach kurzer Zeit bog sie von den Häusern ab an den Stadtrand, schlug diesem entlang einen dunklen Weg ein, unbelebt still war’s, nur der Wind fuhr in heftigen Stößen um die Fortschreitenden. Auch vom Munde Albans kam kein Wort, er war wie betäubt; wohin, zu welchem Zweck er hier gehe, er wußte es kaum. Einzig ein Drang beherrschte ihn: in vollständig lichtlose Finsternis einzutauchen; das ließ ihn weit ausschreiten aber auch einmal die Stimme des Mädchens aufklingen: „Der Vater hat gesagt, wir sollten gleichmäßig gehen, dann kämen wir mit dem Doktor zusammen an.“ Danach ging sie wieder schweigend neben ihm her, und sie gelangten von dem Seitenweg auf die matten Scheins sich aus dem Dunkel abhebende Landstraße, der sie folgten. Vor ihnen flimmerten näher kommende Lichter, Gerlind sagte jetzt: „Das wird die Zollgrenze sein.“ Sie stand still und horchte. „Man hört nichts von Wagenrollen; wir kommen zu früh, doch können noch näher herangehen.“

Sie war ganz Auge und Ohr, Aufmerksamkeit und Vorsicht, alles in ihr richtete sich unverkennbar nur auf den einen Gedanken, Alban ungefährdet hinüber zu bringen. Zum erstenmal begannen einzelne schwere Tropfen aus den Wolken zu fallen, die beiden schritten so weit vor, daß der über die Straße niedergelassene Schlagbaum neben dem Zollhaus erkennbar ward; vor diesem bewegten sich einige dunkle Gestalten. Das Mädchen hatte ein paar Augenblicke den Korb zu Boden gestellt, faßte jedoch eilig wieder nach ihm. „Da – das sind Räder – kommt!“ Der Wind stand von Südwest her, er trug jetzt einen rollenden Klang herüber; Alban that willenlos nach ihrem Geheiß. Nun ward auch Hufschlag vernehmbar, und sie zog mit dem Korb ihren fast schwankend gehenden Begleiter rascher vorwärts. Ein Ruf klang vor dem Schlagbaum, den ein mit einer Leuchte herzukommender Beamter in die Höhe gehen ließ, er fragte: „Sind Sie’s, Herr Doktor? Fahren Sie nur zu, Sie haben ja nichts.“ Die Stimme des jungen Arztes tönte auf. „Heut’ doch, ich schmuggle nichts durch und habe mir etwas von drüben mitgenommen.“ Zwei Grenzwächter waren gleichfalls herangetreten, einer von ihnen drehte sich nach den beiden seitwärts auftauchenden weiblichen Gestalten um und rief sie an. „Wohin? Was tragt ihr? Gerlind antwortete: „Wäsche ins Dorf zurück.“ Er setzte den Fuß gegen sie vor, doch zugleich bäumte das Pferd des Arztes sich, als werde es von einem plötzlichen Stich getroffen, hoch empor und riß den Wagen, ihn wild hin- und herschleudernd, vor. Der Zollwärter sprang zur Seite und der eine Grenzwächter herzu, um das Tier am Zügel zu fassen. Gerlind stieß einen Angstschrei aus und flüchtete, Alban mit sich reißend, erschrocken hastig vor den Rädern unter dem des kurzen Zwischenfalls halber noch nicht wieder herabgelassenen Schlagbaum durch. Dem, der sie angesprochen, schien ihre Stimme und was von ihr im Lichtschein sichtbar ward, Gefallen zu wecken. Er streckte die Hand nach ihrem Arm und sagte lachend: „Laß deine alte Base allein mit dem Zeug laufen, der thut der Regen nichts, stell’ dich so lang bei uns unter!“ Doch, sich schnell losmachend, gab sie ebenfalls lachend zurück: „Da käm’ ich schön an, wenn meine Tante zu Haus erzählte, wo ich geblieben wär’!“ Das Pferd ließ sich nicht beruhigen, bäumte nochmals auf und warf die Deichsel gegen den Grenzwächter herum, der, zurückspringend, mit einem Fluch ausstieß: „Was hat denn das dumme Vieh?“ Verdrossen griff er mit nach dem Zaum, drüben tauchten die weiblichen Kleider, rasch unsichtbar werdend, ins Dunkel. Die Grenze lag hinter ihnen und niemand verfolgte sie; Alban war in Sicherheit.

Er wußte, daß er’s sei, doch weder ein Denken noch ein Fühlen verband sich ihm damit, in dumpfer Empfindungslosigkeit setzte er den Fuß weiter. Der Wind brauste, dagegen nahm der Regen nicht zu, sondern ab; zwischen den jagenden Wolken bildeten sich da und dort Lücken, aus denen Sterne niederfunkelten. Gerlind hatte den Korb als etwas unnötig Gewordenes zu Boden gesetzt, aber blieb nicht bei ihm stehen, sondern ging noch mit auf der Straße fort, eine ziemliche Strecke weit, bis vor ihnen Lichter eines schweizerischen Dorfes schimmerten. Da hielt sie an und sagte. „Dort werdet Ihr Unterkunft für die Nacht finden; ich will Euch noch helfen, die Kleider ablegen.“

Wortlos ließ er’s geschehen; es ward so hell, daß er, wieder in seiner männlichen Tracht zum Vorschein kommend, erkennbar dastand. Das Mädchen hatte das Frauenkleid genommen, ließ es aber gleichgültig zur Erde fallen, nur das Kopftuch, das sie ihm ablöste, behielt sie in der Hand. „So,“ sprach sie, „nun muß ich zurück – lebt wohl!“

Sie streckte ihm die Rechte entgegen, er ergriff sie mechanisch und brachte fast tonlos dazu vom Mund: „Habe Dank!“

Ein paar Augenblicke standen sie so, dann zog Gerlind ihre Hand zurück und wandte sich zum Gehen. Doch sich plötzlich noch einmal umkehrend, schlang sie die Arme um seinen Nacken, küßte ihn hastig auf die Lippen und sagte: „Leb’ wohl!“ Nun lief sie auf der Straße zur Stadt zurück, nach wenigen Sekunden war sie verschwunden.

Alban Hartlaub ging automatisch noch ein paar hundert Schritte vorwärts bis zu einer Stelle, wo ein hoher dunkler Baum am Straßenrand aufstieg. Unter dessen Zweigen blieb er stehen und warf sich fassungslos zu Boden. So lag er stundenlang, nur dumpf vernahm er über sich das Brausen des Windes im Laubwerk. Und mit unsagbarem Wehgefühl klopfte ihm das Herz – „das ist das Rauschen der schönen Waldeinsamkeit!“

Als er sich erhob, hatte die Nacht sich verändert. Das Rauschen ging noch fort, doch am fast wolkenlosen Himmel stand der Mond, alle Blätter des Baumes mit silberhellem Glanz umrieselnd. Eine blühende Linde war’s, und es war die Linde, nach der Gerlind Toralt gestern morgen vom Turme hinübergedeutet und gesagt hatte, unter ihr müsse es sich gut liegen und schön müsse es sein, am hellen Wasser hin weiter zu gehen, durch die Wiesen und das sich goldig färbende Korn mit den roten und blauen Blumen dazwischen.

(Schluß folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_499.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)