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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Also – Ihr leugnet.“

Hildegard richtete sich jetzt hoch auf. Noch einmal raffte sie all ihren Stolz, all ihre seelische Kraft zusammen.

„Herr Doktor Xylander,“ sprach sie mit fester Stimme, obgleich es um ihren lieblichen Mund zuckte und flimmerte, „Ihr, ein Mann von so großer Gelehrsamkeit und so vielfältigen Geistesgaben, seht Ihr nicht ein, daß diese ganze schmachvolle Anklage nur die Ausgeburt eines wahnwitzigen Aberglaubens, einer krankhaften Einbildung ist? Wie? Ich, ein menschliches Wesen von gesunder Vernunft, sollte Gott meinen Herrn verleugnen und Jesum Christum, den getreuen Erlöser, der mir die Seligkeit in den Fluren des Paradieses erkauft hat? Verleugnen um irdischen Tandes willen und mit dem klaren Bewußtsein, hierdurch den Mächten der Finsternis und der Verworfenheit anzugehören, zeitlich und ewiglich? Und ich, ein vom Vater treugehütetes Kind von neunzehn Jahren, ich sollte in schandbarer Liebe entbrannt sein für den Abschaum der Hölle, für ein scheußliches, ekelerregendes Ungetüm? Zumal ich doch längst schon im stillen einem höchst ehrbaren, klugen, tapferen, bewunderungswürdigen Manne zugethan bin? Erschreckt Ihr nicht vor dem handgreiflichen Widersinn dieser gräßlichen Anklagen? Das Reich Gottes ist lieblich, und Christo dienen, das lockt jedweden mit unsagbarem Zauber! Gießt man den goldnen Wein fort, um giftgrünes Sumpfwasser zu trinken? Wird eine gute Tochter dem geliebten Vater davonlaufen, um sich dem pestbeuligen Satanas in die Arme zu werfen? O und diese schmutzigen Lustbarkeiten auf dem Herforder Steinhügel! Nur die Verworfenheit selbst kann so Greuliches ausklügeln, in Wahrheit ist das alles einfach unmöglich. Es giebt keine Hexen! Es giebt keine Zauberer!“

„Ihr hört es, liebwerteste Herren Collegae! Inkulpatin leugnet die Wahrheit des Teufelspaktes! Herr Secretarius, vermerkt das, bitte, im Wortlaut! Es giebt keine Hexen! Es giebt keine Zauberer! Diese Ableugnung wiegt schwerer als alles andere! In den Annalen von Glaustädt ist das wohl bis heute nicht vorgekommen.“

„So habt Ihr niemals die Schriften des Friedrich Spee gelesen?“ rief Hildegard mit wachsendem Ueberzeugungseifer. „Hier freilich in Glaustädt sind sie ja längst verboten. Aber in Wittenberg waren sie jedem zur Hand, der ihrer begehrte, und sie haben ein gut Teil dazu beigetragen, den Blinden das Licht zu geben. Ich bitt’ Euch, Herr Malefikantenrichter, lest diese Schriften. Gewiß werdet Ihr dann einsehen, welch traurigem Wahnsinn Ihr so zahlreiche Opfer schlachtet!“

„Ihr beleidigt das Tribunal!“ schrie Adam Xylander außer sich vor Entrüstung. „Hätt’ ich mir nicht gelobt, Euch bis zur Rückkehr unseres hochwürdigen Zentgrafen Balthasar Noß völlig zu schonen, bei Gott dem Allmächtigen, ich ließe Euch krumm schließen! Geht jetzt! Vielleicht kommt Ihr im Dunkel des Kerkers zu besserer Einsicht. Beim Klirren der Ketten erwacht mitunter die Reue. Ihr dürft nicht glauben, daß man Euch glimpflich behandeln wird, bloß weil Ihr die Tochter eines so vornehmen hochgeachteten Mannes seid. Die Gerechtigkeit trägt eine Binde über den Augen, und die Pflicht steht uns höher als jede sonstige Rücksicht. Uebermorgen wird Herr Balthasar Noß zur Stelle sein. Verharrt Ihr dann bei Eurer Verstocktheit, so wird er schon Mittel und Wege finden, Euch mürbe zu machen. Die Folter ist eine Zungenlöserin ersten Ranges.

Hildegard taumelte.

Ihr letzter Mut war bei den unheildrohenden Worten des Malefikantenrichters zu Grabe gegangen. Die Rutenknechte führten sie lautlos ab.

In der Gerichtshalle herrschte für Augenblicke ein tiefes Schweigen.

„Schade um sie!“ murmelte endlich der alte Beisitzer Wolfgang Holzheuer. „Ich sah nie ihresgleichen.“

„Das ist’s ja eben!“ fuhr Adam Xylander auf. „Ich bin fest überzeugt: eh’ sie der Satan verlockte, war sie die Reinheit, Unschuld und Frömmigkeit selbst. Aber je herrlicher seine Opfer, um so tollkühner macht ihn der Sieg. Und wenn so die teuflische Pestilenz um sich greift … O, Zeiten! O, Sitten! Stehen wir fest, liebwerte Collegae! Der allergnädigste Landesherr blickt vertrauend auf uns als die erprobtesten Stützen der Wahrheit und der Gerechtigkeit! Wir dürfen uns nicht durch falsches Mitleid beirren lassen! Und dazu stärke uns Gott! Amen!“

Er faltete seine hageren Hände und schloß die Augen. Ein heißes, ungeheucheltes Flehen stieg aus dieser verfinsterten Seele nach oben und färbte die eingefallenen Wangen mit dem Rot brünstigster Andacht. Der eine der Schöffen seufzte. Der Beisitzer Wolfgang Holzheuer aber nickte in stummer Ergebenheit vor sich hin.

Das Malefikantengericht schritt nunmehr zu einer weiteren Verhandlung, die gleichfalls von Adam Xylander ausgenutzt wurde, um bei dem Angeklagten, einem fahrenden Schüler, schwere Indicien gegen Hildegard Leuthold zu sammeln.

Unterdessen ward Hildegard selbst, die man bei ihrer Einlieferung zunächst in die ziemlich geräumige Wachzelle im Obergeschoß gesperrt hatte, nach dem Kerker der Malefikanten gebracht. Derselbe lag in dem rechten Flügel des Stockhauses und bestand aus einigen dreißig niedrigen Räumen, die zum Teil fast ganz ohne Licht waren. Ein dämmeriger Korridor, der nach dem Treppenbau mit einer starken eisernen Thür verschlossen war, lief zwischen den beiden Gelaßreihen her. Vor diesem Korridor saß bei Tag und bei Nacht ein bewaffneter Kerkermeister, einer von elf Uhr vormittags bis zum Abend, der zweite von elf Uhr abends bis früh. Links befand sich ein kleiner Raum für die Hellebardiere, die sich hier bis zum Schluß der Gerichtssitzung aufhalten mußten, um die Verhaftete je nach den Anordnungen des Tribunals vorzuführen.

Sinnlos vor Aufregung machte Hildegard Leuthold bei der eisernen Thür Halt.

Der Kerkermeister, ein düsterer, langbärtiger Mann von etlichen dreißig Jahren, nahm sie stumm in Empfang. Sein blasses, verschlossenes Gesicht hatte in der fahlen Beleuchtung, die von oben her durch eine Art Schießscharte in den winkligen Raum fiel, etwas Gespenstisches. Wie er Hildegards Namen hörte, blickte er noch verstimmter und mürrischer drein. Er nickte und legte ihr dann, ohne ein Wort zu sprechen, um Füße und Arme die schon bereit gehaltenen stählernen Ketten an. Die Rutenknechte brummten etwas und entfernten sich. Etliche von den Hellebardieren kamen aus ihrem Gelaß hervor, wo sie gewürfelt hatten, und glotzten die Gefesselte neugierig an. Der Kerkermeister schien diese Leute nicht wahrzunehmen. Er packte die halb leblose Hildegard über dem Handgelenk, schloß die eiserne Thür auf und schob sein Opfer hinein. Vom Sims der unregelmäßigen Steinwand holte er eine trüb flackernde Messinglaterne herab, denn der Korridor hatte kein Tageslicht.

„Vorwärts!“ sagte der Mann kurz und geschäftsmäßig.

Das war das erste Wort, das ihm seit Hildegards Ankunft über die Lippen ging.

Von außen bereits hatte das unglückliche Mädchen seltsame Geräusche gehört, die beinahe wie aufbrausendes Sturmgeheul oder entferntes Brüllen und Pfeifen klangen. Jetzt begriff sie, was dieser eigentümliche Lärm war: ein wildes Gemach von Jammern und Weinen und Wimmern, von Fluchen und Beten, das bald emporschwoll und bald in dumpfer Erschöpfung sich legte, das Elend der Eingekerkerten. In den Gelassen da rechts und links stöhnten Dutzende von menschlichen Wesen, einzelne darunter mit grausam zerbrochenen Gliedern, kaum der notwendigsten Pflege teilhaftig, alle von gräßlicher Angst und Seelenqual bis zum Wahnwitz gepeinigt.

Hildegard hatte bei diesen Schreckenslauten den Eindruck als ob ihr das Mark jählings zu Eis gefriere. Jetzt glaubte sie an die Obmacht der Hölle. Die Hölle aber hieß Erde, und die Dämonen, die dort regierten, waren Teufel in Menschengestalt.

Der Kerkermeister brachte sie nach der äußersten Zelle rechts, einem kleinen viereckigen Raum, der – wie der Platz vor der Korridorthür – durch eine schmale vergitterte Maueröffnung unter der Decke ein spärliches Licht bekam. Das war noch ein großer Vorzug; die meisten der Malefikantenzellen hatten nur einen Luftschornstein und blieben selbst bei hochstehender Sonne vollständig dunkel.- Am Boden lag ein Gebund Stroh. Daneben ein schleißender Wollteppich, man konnte nicht recht erkennen, ob grau oder schmutzig. Auf dem dreibeinigen Schemel stand ein mit Wasser gefüllter Krug.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_503.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)