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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

nichts, viele sind leidlich und einige sind famos. So ist die Sache!‘ Und dazu lachte er schon wieder vergnügt. Und wenn er sich dann zu Tische setzte und entzückt vom Essen war, einen Tag wie alle Tage, dann sagte er: ‚Komisch! Wie’s zugeht, weiß ich nicht. Wenn ich mich geärgert habe, dann schmeckt mir’s, zum Trost, zur Erquickung, wenn ich mich gefreut habe, dann schmeckt mir’s, weil mir’s so schon wohl ist. Also hin oder her – die verflixte Schule giebt allemal das Salz zu der Geschichte!‘“

Mit einem Blick auf Rettenbachers still vor sich hinlächelndes Gesicht fügte sie etwas verlegen hinzu: „Mir scheint, ich hab’ Ihnen das schon einmal erzählt?“

„Nein, nein,“ sagte er beruhigend, „wenigstens nicht vor kurzem, vielleicht viel früher, zu Anfang.“

„Sie schmunzelten aber so vielsagend; kennen wir – alte Geschichte!“

„Ich freute mich nur. Wirklich schade, daß ich den alten Herrn nicht mehr gekannt habe. Ich glaube, ich hätte viel von ihm lernen können.“

„Lernen – ich weiß nicht. Es giebt so manche Dinge, die sich nicht lernen lassen, wenn man auch sieht, wie es der andere macht. Da ist zum Beispiel eines, was Ihnen fehlt und was er hatte und was sich nicht abgucken läßt. Das ist der Humor! Der geht Ihnen ab – glaub’ ich wenigstens.“

Er schwieg ein Weilchen.

„Vielleicht,“ sagte er dann kurz, mit rauher Stimme. “Vielleicht ist er mir abhanden gekommen.“

Das Mädchen sah verwirrt zu ihm auf, sah in sein entfärbtes, trauriges Gesicht und wurde ganz still.

Schweigend, wie zuerst, gingen sie nun wieder nebeneinander her. Vom Kanal bogen sie in die Linkstraße ein. Erdmann und Günther, etwa zwanzig Schritte voraus, traten dann bald in Wasenius’ Hausflur ein. Hanna sah mechanisch die beiden Gestalten unterm Thorbogen verschwinden, die langröckige, priesterliche, würdevoll wandelnde und die kleinere, untersetzte, mit den stets eilfertig pendelnden Schritten.

„Also für das mit dem Stuhl,“ wandte sie sich nun hastig an ihren Begleiter, „dank’ ich Ihnen herzlich – herzlich! Ich geb’ Ihnen nachher gleich das Geld. Und Montag abend wird er gebracht, nicht wahr? Ach Gott, wie freu’ ich mich. Was sie wohl sagen wird! Und wie gut sie darin sitzen wird! Und daß er so schön und pfiffig zu verstellen ist! Dann kann man ihn nach Tische immer so drehen, daß sie darin mehr liegt. O, ich kann’s schon kaum mehr aushalten, bis ich ihn selber sehe! Nicht wahr, Sie freuen sich auch?“

„Sehr,“ antwortete er freundlich. „Ich denke, das wissen Sie.“

„Ja. Und – bitte – Sie haben mir das nicht übelgenommen?“

„Was denn?“

„Das von vorhin. Das letzte. Weil Sie danach so still wurden.“

„Aber was reden Sie! Uebelnehmen! Was wär’ ich dann für ein Stoffel. Sie haben eine Betrachtung gemacht, eine zutreffende, über die ich nachgedacht habe. Beim Nachdenken pflegt man zu schweigen. – Aber geben Sie acht, hier ist schon die Stufe. Man sieht zuerst nicht gut, nach der Helligkeit da draußen!“

3.

Im Wohnzimmer, das auch gleichzeitig Speisesaal und Salon vorzustellen hatte, spann schon seit einem Weilchen die Dämmerung ihre Fäden.

Von dem rosigen Abendlicht draußen kam nur noch ein kleiner schräger Schein zart leuchtend zu dem offenen dreiteiligen Fenster herein, glitt warm über das blasse, traurige Gesicht der kranken Frau im Lehnstuhl, streifte eine Ecke des großen Vogelkäfigs mit Hannas Zeisigen, Stieglitzen und Hänflingen und flimmerte, langsam schwindend, auf der bräunlichen Wand entlang, ohne mit seinem letzten Fünkchen noch den breiten, polierten Ebenholzrahmen erreichen zu können, der Vater Wasenius’ Bildnis, die genial ‚hingehauene’ Kreidezeichnung seines Lieblingsschülers, umschloß. Dunkel stand darunter das schwarze Roßhaarsofa an der dunklen Wand, daneben, schon fast in der Ecke, das altmodische, tafelförmige Klavier. Vom Bücherschrank auf der andern Seite, von Hannas kleinem Schreibtisch war nicht mehr viel zu unterscheiden.

Die Hängelampe über dem gedeckten Tisch in der Mitte war noch nicht angezündet. Das kleine Dienstmädchen, das vierzehnjährige, das noch sehr dumm war, durfte sich an diesen Dingen nicht vergreifen. Es hätte ja den Hebel, mit dem man den Cylinder lüftete, ohne ihn abzunehmen, zerbrechen können. Diese neue verschmitzte Einrichtung war Hannas Stolz. Einer von ihren „Stölzen“ mit denen sie sich nur zu gerne necken ließ, weil niemand so wie sie wußte, mit wieviel Mühe, wie langsam, groschenweise, und mit wie häufigen Vertröstungen auf den „nächsten“ Monat die Sümmchen zur Anschaffung solcher kleinen Ueberraschungen für den Haushalt zusammengespart wurden. Manchmal ist der Luxus im Hause der Armut rührender als die Armut selbst.

In diesem letzten Winter war fast alles sorgsam Erübrigte, alle Extraeinnahmen für Handarbeitsunterricht, für feine Stickereien und sonstige Kunstfertigkeiten in die Kasse für den zauberhaften Krankenstuhl gewandert, der ja nun endlich in leibhaftiger Gestalt erscheinen sollte, durch Rettenbachers Vermittlung noch eher, als zu hoffen war.

Wenn das blasse Mütterchen da am Fenster, das dem langsamen Wandern der rosenroten Abendwolken zusah, die durchsichtigen, magern Hände über dem niedergesunkenen Strickzeug am Schoß verschlungen, eine Ahnung von dieser heimlichen Ränkespinnerei gehabt hätte – wie würde es sich dagegen gewehrt haben, mit allen seinen schwachen Kräften. Wie schlagend würde es bewiesen haben, daß der große Korbsessel ja vollständig seinen Zweck erfülle, daß es sich so weich darin säße, dank den vielen Kissen und Pölsterchen, die Hannas erfinderischer Geist allenthalben angebracht hatte. Wie würde es beteuert haben, daß das überpolsterte Brettchen an den starken Bändern ja prächtig die Füße unterstützte , während man den Stuhl aufhob, um ihn wegzutragen, zum Tisch oder zu ihrem Bett. Ja, das Hinundhertragen, das wäre vielleicht das einzige Argument gewesen, mit dem man etwas bei ihr ausgerichtet hätte. Es wurde infolge des steten Sträubens der Kranken auf das mindestmögliche Maß beschränkt, mußte aber doch immer wieder sein. Zum Glück war sie völlig ahnungslos über das, was ihr drohte, und Hannas Herz dehnte sich aufs neue in der Vorfreude auf Montag abend.

Sie schloß jetzt ihre Flurthür auf, und während die Herren in dem schmalen, halbdunklen Vorraum ablegten, trat sie rasch ins Zimmer, Hut und Jacke schon in der Hand.

„Guten Abend, mein Herzblatt,“ sagte sie mit ihrer frischen, warmen, tieftönigen Stimme, der man, wenn sie sprach, den umfangreichen Sopran gar nicht zutraute. „Warst du brav?“

Sie nahm das Gesicht der Mutter in beide Hände und sah ihr liebevoll prüfend in die Augen.

„Ich habe mich einfach musterhaft benommen,“ versicherte die Gefragte. „Hast du den Pastor mitgebracht?“

„Jawohl. Aber – ich weiß nicht, Mutterchen – du kommst mir mit deinem Selbstlob nicht ganz glaubwürdig vor. Sag’ mir – an was für unmusikalische Dinge hast du denn eben gedacht, als ich heimkam?“

„Ach, so sehr unmusikalisch waren sie gerad’ nicht,“ antwortete Frau Wasenius mit einem zaghaften Lächeln, das den Scherz bekräftigen sollte. „Sie klimperten wenigstens metallisch.“

Hanna verfärbte sich. „Also Geld. – Du hast –“

Jetzt traten aber schon die Gäste ins Zimmer und Hanna richtete sich hastig auf.

„Güntherchen,“ sagte sie während der Begrüßung, „gehen Sie geschwind auf Ihren Posten, spielen Sie etwas Frohes, Helles, Tröstliches. Diese kleine Mutter ist zu lange allein geblieben. Sie hat sich erlaubt, Grillen zu fangen. Die müssen vertrieben werden! Also gute Musik. Und Helligkeit! Bei Licht gedeihen sie auch nicht. Dies ist ja eine Stube für Fledermäuse.“

Rettenbacher hatte die Streichhölzer schon heraus und zündete, mit Hannas „gütiger Erlaubnis“, die Wunderlampe an.

Aber Frau Wasenius wollte jetzt keine Musik. Man werde ja doch gleich zu Tische gehen. Die Herren seien gewiß hungrig. Einen Augenblick sollten sie sich aber noch zu ihr her ans Fenster setzen. Ob da nicht eine ganz wunderherrliche Luft hereinkomme? Förmlich Sommer! Und wie es denn in der Kirche gegangen sei?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_522.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)