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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

endlich in Glaustädt gelandet, um nicht zu sagen gestrandet. Zwischen den armsdicken Mauern des Stockhauses aß er seit vier oder fünf Jahren einförmig und lichtlos dahinlebend sein trauriges Brot. Wenn er nicht Dienst hatte, fehlte ihm alles und jedes, um seine Freiheit halbwegs zu genießen. Die Bezahlung war so erbärmlich als möglich. Nirgendswo sah man ihn gern; die Kinder liefen ihm aus dem Weg wie dem Scharfrichter, kein Mädchen hätte sich je entschlossen, das Schicksal des Hexenbeschließers zu teilen. So war es dem freigebigen Lotefend nicht eben schwer gefallen, Hans Godwin für die Ausführung eines Plans zu gewinnen, der ihm die Möglichkeit bot, sich jenseit der Grenze mit einem Schlage seßhaft zu machen und sich ein frisches, frohes, behäbiges Dasein zu gründen.

„Wer seid Ihr?“ fragte der Kerkermeister im Ton eines verdrossenen Erstaunens,

Henrich Lotefend wies auch ihm den Geleitsschein. Reuling, der Bursche des Stockhausverwalters, wünschte indes gute Verrichtung und wandte sich mit einiger Unsicherheit zum Gehen. „Ich hab’ noch Arbeit“, sagte er wie entschuldigend. „Ihr könnt wohl selber den Herrn da zurückbegleiten.“

„Ja, ja! Troll dich nur, faule Schlafmütze!“

Der junge Mensch rannte spornstreichs von dannen. Als seine Schritte verhallt waren, unterdrückte der Tuchkramer kaum einen Jubelschrei. „Gott sei Dank!“ raunte er aufatmend. „So weit wären wir glücklich! Und nun, Meister Godwin, haltet die Ohren steif, daß uns der Rest gelingt wie der Anfang! Ehe ich hineingehe, sagt, habt Ihr den Schlüssel zur kleinen Turmpforte?“

„Längst! Davon hing ja doch alles ab!“

„Nicht so ganz. Ich war auf das Schlimmste gefaßt. Aber besser ist besser.“

„Und der Wächter am Harracher Stadtthor?“ fragte der Kerkermeister. „Wird uns keinerlei Schwierigkeit machen. Auch sonst alles in schönster Ordnung. Die Pferde sind ausgezeichnet. Und sicher wie Maultiere. Bis an die Grenze brauchen wir kaum dreiviertel Stunden. Noch vor Mitternacht hoff’ ich Euch die zwei Tausend in gutem Papier auszuhändigen.

„Das gebe der liebe Gott! Ich kann’s wahrlich gebrauchen! Längst schon wär’ ich aus diesem Loch ausgekniffen, wenn nicht die leidige Not wäre, die Sorge ums tägliche Brot!“

Lotefend nickte. „Also fehlt uns jetzt zur Ausführung unseres Fluchtplans nur noch Hildegard selbst. Uebrigens dünkt es mir doch zweckmäßig, daß Ihr sie vorbereitet. Geht und tragt die Laterne da in ihre Zelle! Sagt ihr, es komme ein Freund zu ihr, der mit ihr reden wolle! Ja und löst ihr die Ketten!“

Hans Godwin öffnete mit aller Vorsicht die eiserne Thür und trat in den Korridor, wo rechts an der Steinwand eine matt schwelende Lampe hing. Dann begab er sich, fast unhörbar schleichend, in das Verließ Hildegards.

Henrich Lotefend wartete atemlos vor der Zelle. Er hörte die Stimme des glühend geliebten Mädchens, ohne doch zu verstehn, was sie sagte. Es überrieselte ihn vom Wirbel bis zur Zehe.

Hans Godwin setzte seine Laterne auf einen Mauervorsprung. Leise flüsternd nahm er der freudig Erschreckten die Fesseln ab. Hiernach verließ er sie, lehnte die Zellenthüre nur an, gab dem Tuchkramer ein Zeichen und entfernte sich rasch.

Lautlos glitt Henrich Lotefend in das enge Gelaß und zog die Thür voll ahnender Hoffnung hinter sich zu. Er war mit Hildegard Leuthold allein.

Eine Zeit lang standen die beiden einander stumm gegenüber. Hildegard Leuthold war wie niedergedonnert, als sie in dem späten Besucher den Mann erkannte, der sie so gegen alle Vernunft mit seiner aufdringlichen Liebe verfolgt hatte. Sie ahnte, daß ihr diese Begegnung, trotz der vielverheißenden Anspielungen des Kerkermeisters, nichts Gutes bedeute. Lotefend aber schwelgte im Anblick der hinreißend schönen Mädchengestalt, die jetzt so unwiderruflich in seine Hände gegeben war. Der Hauch von Hilflosigkeit und Verstörtheit, der nebelgleich über dem sanft erglühenden Antlitz lag, erhöhte nur ihren Liebreiz. Ihre Augen glänzten so groß und so fremdartig. Niemals war sie ihm so verführerisch holdselig erschienen wie jetzt.

„Hildegard,“ sprach er dann mit verhaltener Leidenschaft, „ich komme, um Euch zu retten.“

„Ihr?“

„Wundert Euch das? Ihr wißt doch, daß Ihr bei Tag und Nacht mein einziger Gedanke seid. Ich liebe Euch bis zum Wahnsinn. Hört mich an, Hildegard! Wenn Ihr mir folgen wollt als mein getreues Weib, so erschließt sich Euch der Weg in die Freiheit. Jetzt – in dieser Minute noch! Wir flüchten nach Dernburg. Jenseit der Grenze winkt uns ein neues glückliches Leben. Ihr sollt mich schon lieben lernen! Ich will Euch auf Händen tragen als Euer opferwilligster Freund! Meine Ehe wird in Bälde getrennt. Alles ist für unser Entweichen vorbereitet. Ihr braucht nur das eine Wort Ja zu sagen.

Hildegard Leuthold starrte ihn weit geöffneten Auges an. Die entsetzliche Angst, die ihr während der letzten Tage so unablässig das Herz zerfleischt hatte, gewann jählings die Oberhand. In diesem Augenblick sah sie nur eins: die Erlösung aus der unmittelbaren Gefahr, die willkommene Befreiung von Elend, Jammer und Tod. Alles andre, was dann späterhin folgen sollte, kam ihr nur ganz schattenhaft ins Bewußtsein.

Vielleicht auch zuckte ihr ein heimlicher Nebengedanke durchs Hirn, die Zuflüsterung einer entschuldbaren Sophistik. Wenn sie jetzt ihre Einwilligung gab, so war diese Zusage ja gewaltsam erpreßt. Was man ihr unter solchen Verhältnissen grausam abnötigte, das brauchte sie nicht zu halten. Wenn sie nur erst einmal glücklich frei war! Jenseit der Grenze, in der Machtsphäre des Fürsten Maximilian, konnte noch alles gut werden! Sie würde dem Griffe Lotefends noch in zwölfter Stunde entfliehen. Vielleicht, wenn sie ihm recht ins Gewissen sprach, stand er sogar aus eigener Entschließung von seinem Begehren ab und ließ sich großmütig an ihrem heißen Danke genügen. Erwiesene Wohlthaten wirkten ja oft veredelnd auf den selbstsüchtigsten Wohlthäter!

Sie atmete schwer. Lotefend aber hatte ihr Mienenspiel mit dem zersetzenden Scharfblick des Mißtrauens beobachtet.

„Wollt Ihr?“ fragte er eindringlich.

Und da sie nicht Nein sagte, fuhr er mit leise zitternder Stimme fort. „Wenn Ihr denn wirklich wollt, so liefert mir den Beweis, daß es Euch mit dieser hingebungsvollen Absicht ernst ist. Eh’ ich nicht Eure Lippen geküßt und Euch glückselig in meine Arme geschlossen habe, eher halt’ ich mich Eurer nicht ausreichend versichert. Erst wenn Ihr durch einen Schwur die Brücke zwischen Euch und dem andern völlig zerstört habt, erst dann vertraue ich Euch.“

Ein unheimliches Feuer blitzte in seinen Augen. Er trat einen Schritt näher. Im nächsten Augenblick hatte er sie voll schauernder Inbrunst an sich gerissen.

Entrüsteter noch als damals im Studiergemach ihres Vaters stieß Hildegard Leuthold den blindwütigen Angreifer zurück.

„Lieber den Tod!“ ächzte sie dumpf, da er sie endlich frei gab. „Um diesen Preis folg’ ich Euch nie! Gott wird mir schon Kraft verleihen, all dieser Schrecknis muterfüllt Trotz zu bieten. Er wird mich sterben lassen im Glauben und ohne Bitternis. Hätte dies Leben denn Wert für mich, wenn ich den einzig geliebten Mann ehrlos verriete?“

„Ihr seid ihm ja doch verloren,“ murmelte Lotefend. „Kommt zur Vernunft, Hildegard! malt Euch aus, was Euch erwartet! Einen Vorschmack des Fürchterlichen habt Ihr genossen. Ihr habt Euch hier in der Zelle gewunden vor Jammer und Todesangst. Aber was ist das im Vergleich mit der Folter und mit der Einäscherung bei lebendigem Leibe! Hildegard Leuthold, Euer Schicksal ist so gut wie besiegelt!“

Hildegard wandte sich stöhnend ab.

„Noch einmal“, fuhr er mit schmeichelnder Inständigkeit fort, „fügt Euch ins Unvermeidliche! Ihr sollt es niemals bereuen, so wahr ein Gott lebt! Und – ich komme nicht wieder, Hildegard! Ich komme nicht wieder! Wenn Ihr Euch jetzt nicht entschließt…“

„Lieber die Folter! Lieber den Feuertod!“

Der Tuchkramer trat etwas zurück. Sein Gesicht trug den Ausdruck erkünstelter Frostigkeit. „Ich warte noch zehn Minuten! Wenn diese zehn Minuten um sind, verlasse ich Euch. Ihr wißt dann, was Euch bevorsteht.“

Hildegard sank zu Boden. Sie rang wortlos die Hände. Dann schleppte sie sich langsam und wie gebrochen zu dem Ratsherrn heran, umklammerte seine Kniee und stöhnte verzweiflungsvoll:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_530.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)