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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

er aufrecht umherschwankte, winselte sie zwischen Lachen und Weinen unzähligem: „Das hat mein Sprüchel gethan! Das hat mein Sprüchel gethan!“

Es kostete unendliche Mühe, den Aufgeregten von seinem Plan abzubringen und ihm begreiflich zu machen, daß er nach dieser plötzlichen Heilung unmöglich sofort stundenlang auf den Beinen bleiben und sich ins dichteste Straßengetümmel hineinwagen könne. Die kleine verständige Schuhflickers-Lore sprach hier mit großer Beredsamkeit und schloß sich den Bitten der Mutter so eifrig an, daß er zuletzt nachgab, zumal er wohl selbst fühlte, daß seine Kräfte nicht lange vorhalten würden. Aber nun warf er sich mit verzweifeltem Ungestüm aufs Gebet. Und Lore, die jetzt in Thränen zerfloß, betete rastlos mit.

Von allen Seiten strömte das Volk auf die Straßen, obgleich der Tag außerordentlich heiß war. Das schrilltönende Armesünderglöckchen lockte die halbe Einwohnerschaft aus den Häusern; die kleiderprangenden, schmucken Geschlechtersöhne wie die grobknochigen Handwerksgesellen, die mit und ohne Erlaubnis ihrer Brotherren die Werkstatt verließen, die hübschen Töchter und Frauen der Kleinbürger, die Kinder und Greise. Alle Welt wußte, wem’s heute galt, und alle Welt nahm hier besonderen Anteil, jeder in seiner Art. Die sonst so bequeme Wirtin vom „Goldenen Schwan“ vergaß sogar ihren Nachmittagsschlaf und rannte dem Gusecker Thore zu, um sich hier an der Straßenböschung rechtzeitig niederzulassen. Sie mußte doch sehen, wie sich die schöne, vornehme Hexe auf dem Blutkarren ausnahm, und ob sie auch ernsthafte Reue verriet oder noch heimlich dem bösen Feind anhing. Denn die Meinungen über Hildegards Schuld waren doch ziemlich geteilt.

Auch Henrich Lotefend war schon längst unterwegs. Er steuerte hastigen Schrittes dem dreieckigen Platz vor dem Stockhause zu, wo er sich unmittelbar am Haupteingang neben der speertragenden Schildwache aufstellte. Er sah merkwürdig verändert aus – das Antlitz gelbgrau, starr und mit tiefdunklen Schatten unter den Augen. Dem unheimlich schrillen Tone des „Kleppens“ lauschte er mit übel verhohlenem Grausen. Manchmal nahm er die Ratsherrnmütze vom Kopf und fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn. Dabei regte sich seine bläuliche Lippe wie in lautlosem Selbstgespräch.

Ringsumher auf dem dreieckigen Stockhausplatz herrschte bereits vor dem Eintreffen Lotefends ein dichtes Gedränge. Den Standort neben dem wachthabenden Speerträger dankte der Tuchkramer nur dem Geleitsschein des Balthasar Noß und der geflüsterten Zusage eines Goldguldens. Die Hellebardiere ließen sonst keinen von den unzähligen Neugierigen, die hier schwätzend und arg lärmend herandrängten, bis auf Speerlänge vor. Schon seit ein Uhr wurde das Stockhaus förmlich umlagert. Der ganze Platz war überfüllt. Auch die Fenster und Erker der umliegenden Häuser strotzten von Insassen. Mauervorsprünge waren erklettert worden. Selbst die Dachluke zeigte erwartungsvolle Gesichter. Etliche Knaben umklammerten in gefahrdrohender Höhe Giebelspitzen und rostige Wetterfahnen.

Punkt halb Vier öffneten sich die Thorflügel. Der Zug, der sich im Hofe aufgestellt hatte, kam langsam und bedächtig heraus. Zuvörderst schritt eine Abteilung rot- und blaugekleideter Stadtsoldaten. zwölf Mann. Sie trugen wimpelgeschmückte Lanzen und kurze Schwerter. Dann folgte, von zwei stämmigen Brandfüchsen gezogen, der Armesünderkarren, eine Art Leiterwagen mit querliegenden Brettern. Vorn auf dem ersten Brett hockten mit gleichgültig rohen Gesichtern die beiden Henkersknechte. Auf dem mittleren Brett saß der Stadtpfarrer Melchers, neben ihm, den Kopf mit geschlossenen Augen an seine Schulter gelehnt, Hildegard Leuthold. Sie war bleich wie ein Lilienblatt und beinahe ohnmächtig, aber in dieser Hilflosigkeit von unbeschreiblichem Liebreiz. Hinter ihr auf dem dritten Brett saßen zwei Rutenknechte. Der Scharfrichter selbst mit einigen Untergehilfen war schon seit Mittag an Ort und Stelle, wo er den Block festlegte und den siebentehalb Fuß hohen Scheiterhaufen errichtete.

Beim Anblick des Schandkarrens mit der Delinquentin ging ein Murmeln durchs Volk, vieldeutig, aber im Grunde doch mehr Teilnahme und Mitleid ausdrückend als Entrüstung und Haß. Dies wunderholde Geschöpf, edel selbst in der tiefsten äußeren Erniedrigung, frauenhaft und kindlich zugleich, gewann eben unwiderstehlich die Herzen, der Macht selbst des Aberglaubens und des wütenden Fanatismus zum Trotz.

Nachdem das traurige Fuhrwerk ächzend und kreischend heraus auf den Platz gerollt war, folgte in kurzem Abstand Balthasar Noß zwischen zwei baumlangen Rutenknechten. Er machte ein feierlich ernstes, beinahe kummervolles Gesicht. Unmittelbar hinter ihm schritten die übrigen Mitglieder des Malefikantengerichts in ihrer tiefschwarzen Amtstracht. Den Schluß bildete wiederum eine Abteilung rot- und blaugekleideter Stadtsoldaten.

Beim Erscheinen der Blutrichter trat eine bängliche Stille ein. Vor Balthasar Noß und dem hohlwangigen Adam Xylander empfand jeder, ob klug oder unklug, ein beklemmendes Grausen, das sich je nach Verschiedenheit der persönlichen Ueberzeugung mit Ehrfurcht oder mit Abscheu mischte. Der Ruf des Balthasar Noß war seit einiger Zeit übrigens selbst in den Scharen seiner ursprünglichen Anhänger schwer geschädigt worden. Trotz der Vorsicht, mit der Balthasar seine unlauteren Abenteuer ins Dunkel der Nacht hüllte, war doch mancherlei über den Lebenswandel des Mannes ins Volk gedrungen und hatte den Glauben an den sittlichen Ernst des Zentgrafen namentlich bei den Kleinbürgern und Handwerkern vielfach erschüttert.

Als der mißmutig dreinschauende Fuhrknecht, der den Schandkarren lenkte, jetzt eben von dem menschenwimmelnden Stockhausplatz in die Pfahlstraße einbiegen wollte, fiel ein todblasser, augenrollender Mann in vornehmer Tracht den beiden Brandfüchsen wild in die Zügel. Es war der Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend.

„Halt!“ rief er mit weithin gellender Stimme. „Halt!“ Ihr begeht ein Verbrechen! Hildegard Leuthold ist unschuldig!“

Stirnrunzelnd, den wuchtigen Kopf stolz in den Nacken gelegt, trat Balthasar Noß hinter dem Armesünderwagen hervor.

„Herr Lotefend!“ sagte er strafend. „Ihr, ein Ratsherr, wagt so nichtswürdige Reden? Seid Ihr von Sinnen? Ihr frevelt ja unverantwortlich gegen die Majestät des Gerichtshofs!“

„Sie ist unschuldig!“ kreischte Lotefend rasend. „Ich weiß es am besten! Ich selbst habe sie denunziert! Der Schreiber des Briefs an Doktor Xylander bin ich! Aber meine Denunziation war Lüge! Jedes Wort nehm’ ich zurück!“

„Die Leutholdin hat selber bekannt,“ versetzte Noß kalt.

„Ja, wie alle Eure Opfer bekennen! Unter dem Druck der Folter!“

„Nein, freiwillig!“

Nur die Rücksicht auf die guten Frankfurter und Leipziger Wechsel, die ihm der Tuchkramer eingehändigt, veranlaßte Herrn Balthasar Noß, mit dem unerwarteten Störenfried überhaupt zu verhandeln. Sonst hätte er augenblicks den Befehl erteilt, den Mann da in Haft zu nehmen.

„Herr Zentgraf, ich schwör’ es Euch!“ rief Henrich Lotefend außer sich. „Macht mir selbst den Prozeß! Aber bei allem, was heilig ist, gebt diese Schuldlose frei!“

„Genug!“ zürnte Balthasar Noß, dem jetzt die Geduld riß. „Geht aus dem Wege, Herr Lotefend, oder ich brauche Gewalt!“

Der Tuchkramer wich und wankte nicht. Da trieb der Kutscher auf einen Wink des Zentgrafen die beiden Pferde ungestüm mit der Peitsche an. Lotefend wankte und stürzte. Räderknirschend rollte der Karren weiter und streifte ihm quetschend den Oberarm. Als er sich mühsam erhob, sah er noch gerade, wie der traurige Zug links um die Ecke verschwand, während das Volk stürmisch nachdrängte. Niemand kümmerte sich um den Verzweifelten. Balthasar Noß hatte das Wort unter die Massen geschleudert, der Mann sei offenbar geisteskrank. Und nun packte den Unglücklichen die furchtbare Einsicht, daß es zu spät war. Hildegard Leuthold, die süße Blume, deren berauschender Duft ihn so toll gemacht, eilte nun rettungslos ihrem Verhängnis entgegen. Und wenn er, Lotefend, jetzt dem Karren auch nachlief und – wie er sich das seit einer Stunde so oft ausgemalt hatte – den Zentgrafen niederschoß, was frommte das noch? Was half der Tod des Balthasar Noß ohne die gleichzeitige Niederwerfung des ganzen schrecklichen Tribunals und seiner machtvollen Gönner? Das unbarmherzige Schicksal würde ja doch seinen Lauf nehmen! Er selbst hatte den Stein ins Rollen gebracht!

Er stöhnte wild auf. Die langunterdrückte Reue ergriff ihn mit unermeßlichem Wehgefühl. Gleich drüben am Platz stand eine Hausthür offen. Sinnlos vor Jammer trat er in den graudämmernden Flur. Hier schien alles verwaist. Er zog aus der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_590.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)