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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Kleide auch nicht gerade zu sorgen,“ dachte das Mädchen, unangenehm berührt, „das müßte man ihm abgewöhnen.“

„Wenn es doch nur nicht so viel regnen wollte,“ sagte sie laut, „sonst ist es hier ja süß.“

Süß! Er zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen.

Sie bemerkte es nicht. „Meine Mama sagte noch gestern, Adelgunde, sagte sie, in einer netteren Gegend sind wir noch auf all unseren Reisen nicht gewesen. Besonders die Berge und die Tannen die sind doch gar zu niedlich, nicht wahr?“

„Ja, sehr niedlich.“ Gütiger Himmel, schroffes Felsgestein und hundertjährige, himmelaufragende Tannen, deren majestätische Wipfel die Wolken berührten, das nannte dieses Mädchen niedlich! Er sah sie durch seine Brille ganz erschrocken an. Er war feinfühlig in dergleichen. Und Adelgunde hieß sie auch noch!

„Wie er mich ansieht,“ dachte Adelgunde, „es muß nicht so schlimm sein mit meiner Frisur, sonst würde er nicht so entzückte Augen machen. Ein bißchen langweilig scheint er zu sein, aber wenn man Graf ist und Millionär –“

„Aber das Meer ist doch noch niedlicher,“ sagte er.

„O, süß! Ja, das Meer ist reizend, und dann ist es auch so modern!“ Sie schlug die sanften Augen schüchtern zu ihm auf. „Sie sind gewiß auch sehr für Natur – ach, ich schwärme so riesig dafür! Meine Mama sagt immer: Wenn unsere Adelgunde nur schöne Natur hat und ein gutes Buch, da braucht sie weiter nichts.“

‚Aber sie hat ja Puder auf ihrem Gesicht!‘ dachte der junge Mann so entsetzt, wie nur ein ganz ehrlicher Mensch es bei solcher Entdeckung sein kann. Als sie ihm das Köpfchen so schwärmerisch zugewendet hatte, war eben ein heller Lichtstreif darauf gefallen, und so, ganz in unmittelbarer Nähe sah er, was seinem kurzsichtigen Blick aus der Entfernung bockig verborgen geblieben war: ein wenig Puder auf den Wangen, ein wenig Karmin auf den Lippen, ein wenig Tusche in den feingeschweiften Augenbrauen. Es war keine dick aufgetragene Schminke, nur ein Hauch von allem sozusagen, aber doch genug, um seine Begeisterung für ihren frischen Jugendreiz kläglich zu ernüchtern. Die Regentropfen hatten den Puder an einigen Stellen fortgeschwemmt, es machte den Eindruck, als lägen mattgelbliche Flecken auf milchweißem Grunde.

‚Was für Augen er macht,‘ dachte das Mädchen wieder, den überraschten Blick gänzlich mißverstehend, ‚wenn er bloß ein kleines bißchen mehr sprechen wollte!‘ – „Sie haben dort wohl ein sehr schönes Buch?“ fragte sie laut mit lieblichem Lächeln.

„Gewiß, mein Fräulein, ein herrliches Buch, es ist Ihnen aber sicherlich bekannt.“ Damit reichte er ihr seinen Shakespeare.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf Inhalt und Titelblatt. „Diese französischen Sachen lese ich nicht,“ sagte sie reserviert, „meine Mama findet sie nicht passend für junge Mädchen. Sie sagt, ein gediegenes deutsches oder englisches Buch sei immer das beste.“

Er stöhnte innerlich. War es denn möglich, war dies das Mädchen, welches er aus der Ferne angebetet hatte wie ein dummer Junge? „Und dürfte man fragen, welche deutschen Schriftsteller Sie bevorzugen, mein Fräulein?“

„Ach, ich habe hier ein reizendes Buch – süß! Man muß dabei so weinen.“ Dabei griff sie nach dem Buche, das sie vorhin auf die Bank gelegt hatte, es war ein sehr wenig sauber aussehender Leihbibliothekband. Einen Augenblick zögerte er, ihn anzufassen, dann nahm er ihn doch, schlug ihn auf und – ja wirklich, er konnte beinahe belustigt, lächeln trotz der schmerzlichen Enttäuschung, die er eben durchmachte – er erblickte die schlechte deutsche Uebersetzung eines seichten französischen Romanes.

Guter Gott – guter Gott – und dieses Mädchen hatte er – wo hatte er doch seine Augen gehabt? Wie war es möglich gewesen, nicht zu sehen, daß hinter diesem hübschen Lärvchen kein Gehirn steckte? Und dieses Mädchen hatte er – o, gesegneter Regen, der den blendenden Schimmer von diesem „Ideal“ abgewaschen hatte!

„Freilich, reisen ist noch reizender wie schöne Bücher,“ sagte sie, das Köpfchen auf die Seite legend, um zu ihm emporzusehen. „Sie, Herr Graf, sind gewiß sehr viel gereist?“

Herr Graf? Wer ihr nur das verraten hatte? Uebrigens, von Rechts wegen hätte er sich ja längst vorstellen sollen. Er gestand sich selbst, daß es eigentlich flegelhaft sei, es bisher unterlassen zu haben. Allerdings schien sie ja auch ohne das ganz gut unterrichtet zu sein. „Gewiß, mein Fräulein, ich mache jährlich meine kleine Reise,“ antwortete er.

„Klein? O, Sie sollen doch die halbe Welt und mehr gesehen haben, Herr Graf.“

„O behüte – hier und da ein wenig! Wer kann Ihnen doch das erzählt haben? Ueberhaupt, wer weiß denn hier eigentlich von mir? Jedoch gestatten Sie zunächst, daß ich mich Ihnen vorstelle, es hätte längst geschehen sollen. Sozusagen sind wir ja Tischnachbarn. Graf –“

„Ach, ich weiß schon.“ Sie sah lächelnd zu Boden und spielte mit dem Griff ihres Schirmes. „Wir hörten den Namen zufällig, er ist ja sehr bekannt – so kam es denn von selbst –“

„Mein Name bekannt? Ich wüßte wirklich nicht!“

„Aber gewiß – doch, Herr Graf. Und es wurde dann auch so viel von Ihren großen Reisen –“

„Groß – groß! Nun, so weit ein armer Schulmeister denn eben kommt in den Ferien, mein Fräulein. Da sind die Grenzen ja sehr eng gezogen.“

Der Schirm fiel aus der kleinen Hand polternd zu Boden.

„Ferien – Schulmei –“ stotterte Adelgunde.

„Aber freilich, mein Fräulein. Es scheint doch fast, als ob Sie sich in meiner Person irrten. Graf, Lehrer am –“

„Am Gymnasium zu Wesenheim,“ wollte er vollenden, aber er hielt inne, so verstört sah ihn das hübsche Mädchen an.

„Graf – Lehrer – so sind Sie nicht Graf Breitenburg?“

„Nicht die Spur, mein Fräulein. Graf Breitenburg ist der ältere Herr mit der hohen Stirn, der Ihnen bei Tische gegenüber sitzt. Ja, der hat allerdings Reisen um die halbe Welt gemacht. Dem erlaubt es aber auch sein Geldbeutel und seine Zeit.“

„Er ist nicht Graf, er ist nicht Millionär,“ dachte das Mädchen mit unsagbarer Enttäuschung. O, wie dumm, wie dumm, wie dumm war sie gewesen! An diesen ganz simplen Herrn Graf, der nichts war als ein bloßer Lehrer, hatte sie so viele Gedanken, so viel Herzklopfen, so viel liebliche Blicke verschwendet! Gedankt sei dem Regen, der ihr noch zur rechten Zeit die Augen geöffnet hatte! Wo hatte sie nur vorher ihren Verstand gehabt? Daß dieser gewöhnlich aussehende, schüchterne Mensch kein Graf sein könnte, hätte sie wohl auch wissen können, und Mama ebenfalls. Da war doch der Herr ihr gegenüber, der wirkliche Graf Breitenburg, eine ganz anders aristokratische Erscheinung, ein Herr in seinen besten Jahren mit einem sehr anziehenden Gesicht.

Sie trat von dem jungen Manne weg und sah in den Regen hinaus. Wenn er doch nur weggehen wollte, dieser langweilige Mensch, den sie eigentlich von Anfang an nicht hatte ausstehen können! „Ob es denn noch nicht bald besser wird?“ sagte sie wie zu sich selbst.

Ob er ihre Gedanken las? Ein sehr großes Kunststück wäre es nicht gewesen. „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, mein Fräulein,“ sagte er mit einer kühlen Artigkeit, zu der er sich noch vor einer halben Stunde völlig unfähig gefühlt haben würde, „es scheint sich ein wenig aufzuhellen, aber es kann doch noch lange fortregnen. Für mich mit meinem Schirm ist der Weg immerhin passierbar, für Sie ist er unmöglich. Ich werde nach Hause gehen und Ihnen aus dem Hotel einen Mann mit einem Schirm schicken, der meinige reicht für uns zwei nicht.

Sie neigte kühl den Kopf. „Wenn Sie so gut sein wollen, es wäre wohl wirklich das beste.“

„Also empfehle ich mich, mein Fräulein.“ Er spannte seinen Schirm auf und ging.

„Gott sei Dank!“ sagte er aufatmend, als er draußen war, „lieber im ärgsten Klatschregen waten, als mich mit dem Gänschen noch weiter unterhalten. Na – und in die war ich verliebt!

„Gott sei Dank!“ flüsterte das Mädchen, ihm nachsehend, „daß der langweilige Mensch fort ist und daß ich noch rechtzeitig merkte, was für ein ,Graf’ er ist!

Und dann setzte sie sich hin und weinte über den verstoßenen Traum von der Gräfin und der Million, so daß auch der letzte Rest Puder noch fortgeschwemmt wurde und ihr Taschentuch kleine rote Karminflecke bekam.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 639. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_639.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)