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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die niedrigste Karte hatte Lugau gezogen…. „Lugau hat den Strohmann!“ sagte Wild und nahm neben ihm Platz. Schilcher begab sich auf die andre Seite. Während er sich in seiner geräuschlosen Weise setzte, nahm Lugau die Karten und fing an zu geben. „Uebrigens,“ fuhr Wilds helle, heitere Stimme fort, „ich muß sagen, Gertrud Rutenberg und der junge Wyttenbach sind das hübscheste Paar im Saal … Was haben Sie?“ fragte er, da Schilcher plötzlich aufstand.

„Ich?“ murmelte Schilcher. „Mir war, als läge da was Spitzes auf meinem Stuhl. – Nein, da liegt nichts.“

„Nein, da liegt nichts,“ bestätigte Lugau, der sich vorgebeugt und einen scharfen Landmannsblick hingeworfen hatte. Schilcher setzte sich, wie beruhigt, wieder hin. Lugau gab weiter. „Als ich noch Gutsbesitzer war,“ begann er dabei zu plauschen „spendierte ich auch einmal so ’nen Ball, nach Weihnachten einer andern kleinen Nichte zu Ehren, die sich verplempert hatte –“

Dem heute so komisch unruhigen Schilcher gab’s schon wieder einen Ruck. „Verlobt, mein’ ich,“ verbesserte sich Lugau. „Denselben Tag hatten wir fünfzehn Grad unter Null und einen ganz barbarischen Ostwind dazu. Da kam so einer von den jungen Herren, dem waren – ungelogen – dem waren beinahe die Hände abgefroren. So rot waren sie –“

Er streckte unwillkürlich seine Hände aus. Als er sie dann sah, zog er sie allerdings wieder zurück. „Ach was!“ sagte er, über sich selber lächelnd. „Knallblaurot waren sie, will ich sagen.“

„Spielen Sie ihn uns nur vor,“ rief Wild, „mit den roten Händen!“

Schilcher nickte, indem er wie die andern seine Karten aufnahm. „Ja, und machen Sie uns die fünfzehn Grad unter Null vor –“

„Ich glaube, das kann er!“ rief Wild. „Ein Thermometer kann er gewiß ganz vorzüglich spielen!“

„Meine Herren Spottvögel,“ entgegnete der Domänenrat, „ich kann auch Whist spielen, und das gar nicht übel, Ihrem respektiven Portemonnaie ist das ja bekannt … Er deckte die Karten des Strohmanns auf. Dann, nach einem kurzen Feldherrnblick auf sie, klopfte er mit einer der Anlegmünzen auf den Tisch, zum Ausspielen auffordernd. Bitte, meine Herren, wenn’s gefällig ist!“

„Also, zum Werke, das wir ernst bereiten,“ sagte Wild und spielte aus. „Ohne weiteres Trumpf!“

„Mir auch recht,“ erwiderte Lugau und spielte für den Strohmann aus.

Die Musik begann wieder, jetzt war’s ein Walzer. Schilcher horchte einen Augenblick; ihm fuhr die Melodie nicht in die Beine, sondern in den Arm, wie wenn er jemand prügeln möchte. Ich wollte, dachte er, ich könnte dieses Süßholz van Wyttenbach – –

„Den hau’ ich auf den Kopf“ sagte er grimmig, als meinte er den Trumpf auf dem Strohmann, und warf seine Karte hin.

Einen Augenblick später kam etwas Dunkles in die Thür, die zum Salon führte. Rutenberg trat auf die Schwelle. Die große, breite Gestalt kam nicht frisch und elastisch wie sonst, sondern müde, als wär’ schon der ganze Ball vorbei und die Nacht herum. Er trocknete sich die Stirn, als hätte er sich bei wildem, dahinrasendem Tanz erhitzt. „Du auch schon da?“ fragte Wild, während Lugau nachspielte.

Rutenberg antwortete nicht. Er warf dafür einen so sonderbaren, verstörten Blick zu Schilcher hinüber, daß dieser aufstand, er wußte selbst nicht, warum. „Na?“ fragte Lugau verwundert, da der Mann sich erhob, statt, wie es seine Schuldigkeit war, wieder auszuspielen. „Schilcher, es ist Ihr Stich!“

„Ja, ja,“ brummte Schilcher. Jetzt stand aber schon der Hausherr bei ihm und faßte ihn am Arm. „Verzeiht!“ sagte er zu den andern – einen Augenblick! – Er zog den kleinen Oberappellationsrat zu seinem Wohnzimmer hin; die Whistspieler sahen ihm sehr betroffen nach. „Schilcher!“ flüsterte er, als er ihn dort hinter die Thür gedrängt hatte. „Schilcher, ich bin hin!“

„Ich noch nicht,“ raunte Schilcher; er ward nun wieder ruhig, da der andere überfloß. – „Es ist wirklich so?“

Rutenberg seufzte… „Ja, es ist so, Schilcher. Amor, der blinde Gott! Sie sieht ihren Arthur für ’nen Engel an. Leben und sterben will sie mit ihrem Arthur. – Schilcher! Schilcher! Haben wir das um das Kind verdient?“

„Einer von euch muß nachgeben,“ sagte Schilcher trocken. „du oder sie.“

„Ich?“ fuhr Rutenberg auf. „Lieber tot!“

Sie hörten, wie nebenan die Whistbrüder mit den Spielmünzen auf den Tisch klopften, zuerst ungleich, dann im Takt. „Was hat dieser Hausherr?“ fragte Lugau laut. Noch lauter sagte Wild, die Stimme hebend: „Wie ein vernünftiger Mensch so ’ne Spielpartie unterbrechen kann, ist mir unverständlich!“ – „Lugau! Was liegt unten? Schwarz oder rot?“

„Rot,“ sagte Lugau.

„Schwarz!“ entgegnete Wild.

„Sie fangen an, Abheben zu spielen,“ flüsterte Rutenberg. „Sie werden höllisch ungeduldig.“

„Laß sie,“ brummte Schilcher. „Haben Zeit bis morgen früh. – Also, wenn du nicht nachgeben willst, dann muß sie nachgeben. Ein drittes giebt’s nicht.“

Rutenberg seufzte leise. „Mit Gewalt? Unmöglich! Sie hat ihres Vaters Kopf! Gewalt macht sie hart wie Stein; macht sie wahnsinnig, Schilcher. Und ich will ja doch mein Kind nicht zu Grunde richten –“

„Ich auch nicht,“ ergänzte Schilcher.

„Da tanzen sie!“ flüsterte Rutenberg und horchte auf die weiche, wogende, wiegende Musik. „Da tanzt nun diese kleine Blinde mit dem Tod im Herzen …“

„Wird ja nicht,“ sagte Schilcher leise, immer trockener. – „Gegenmittel!“

„Ich weiß keins!“ stöhnte Rutenberg verzagt und warf sich auf einen Stuhl.

Schilcher lächelte, aber nur so mit den Augen. Er trat neben den gebrochenen Riesen und beugte sich ein wenig über ihn hin, beinahe wie eine Mutter über ihr krankes Kind. „Abreisen,“ sagte er dann langsam.

„Abreisen?“

Schilcher nickte stumm, legte aber seine Augen so recht auf die des andern und rieb sich die Hände.

Auf einmal belebt sprang Rutenberg wieder auf. „Mensch“ sagte er, indem seine blauen Augen zu leuchten begannen, „Mensch, da hast du recht! Du hast ja recht, alter Schilcher. Abreisen – Trennung von dem ,Engel’ – Entfernung – andre Eindrücke – schöne Gegenden – Menschen – o wie hast du recht! – Es wird uns hier auf einmal zu kalt, zu nordisch, zu winterlich, wir sehnen uns nach dem Süden, wo es jetzt im November noch schön ist, wir sind junge Leute, wollen unser Leben genießen … O, wie hast du recht! In aller Liebe und Güte fahren wir mit dem Schnellzug ab … Geh’ an deinen Spieltisch, Schilcher. Ich hab’s. Ich bin wieder glücklich!“ Er schob ihn vergnügt von sich weg. „Geh! Geh!“

„Nu also!“ schmunzelte Schilcher. Weiter sagte er nichts mehr; er trat in das Bücherzimmer zurück und an seinen Platz.

Wild trommelte eben auf den Tisch. „Kann man jetzt die Ehre haben, Herr Oberappellationsrat Gottfried Schilcher, Sie ausspielen zu sehn?“

„Trumpf ist ’ne gute Farbe,“ sagte Schilcher ruhig und spielte aus. Die andern murrten nicht mehr, sie fragten auch nicht. Sie kannten ihren Rutenberg, das „alte Quecksilber“. Sie bedienten, man spielte weiter.

Ja, ja, Trudel, dachte Rutenberg im andern Zimmer, noch in seinen Stuhl gelehnt, von Herzen liebevoll lächelnd, abreisen! So wird’s! – Die alte Fabrik kann mich wohl entbehren. Na, und wenn sie auch nicht könnte, sie muß. Ein Vater, dem so ’ne Stunde schlägt, der muß alles hergeben, alles, alles dransetzen Zeit, Geld, Ruhe – um seinem Kind zu helfen – um ihr Glück zu retten. Alter, du hast recht …“

Er mußte das dem Alten selber sagen, auf seinem einsamen Platz litt es ihn nicht mehr. Mit drei Schritten war er im Spielzimmer, trat zu Schilcher und zog ihn wieder vom Stuhl empor und zwischen den Tischen entlang. „Glaub’ mir, Schilcher,“ flüsterte er zu dessen Ohr geneigt, „ich kenne meine Pflicht! Hab’ hundert Väter gesehn, die in so ’nem Fall nicht zum Ziel kamen, oder dran vorbei, weil’s ihnen am Herzen fehlte oder am Kopf, weil sie mehr an ihr liebes Ich dachten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_706.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)