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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

wollte, um ihn zu küssen, machte er sich steif und drehte den Kopf weg.

„Aber Heidi!“ sagte Helene verweisend, trotz Hannas stummer Abwehr. „Du wirst doch nicht unfreundlich sein? Es ist ja die liebe Tante Hanna, die du immer im Album suchen darfst. Geh, gieb ein schönes Küßchen.

Der Kleine drehte sich verlegen hin und her. Endlich sagte er beklommen, halblaut. „Ich hab’ ja noch Zeit!“

Beide Frauen mußten lachen.

„Er hat recht,“ sagte Hanna. „Quälen wir ihn nicht. Das kommt alles von selbst. Ich werde schon nach und nach wieder mit ihm bekannt werden. Schließlich ist es ja meine eigene Schuld. Laß. Kümmere dich nicht um uns.“

„Gut. Ich seh’ also schnell nach dem Paul. Setz’ dich derweilen. Wenn er noch schläft, bin ich in einer Minute wieder da, sonst in zehn.

Hanna wählte sich einen niedrigen Stuhl. Sie kannte ihn schon von früher her. Otto Imhoff hatte ihm ein großes Stück von den Beinen abgesägt. Man saß darauf wie auf einem Schemel, und doch angelehnt.

„Zeig' mir doch dein Bilderbuch, Heidibubi, ja?“ sagte sie dann. „Das hab' ich so furchtbar lange nicht gesehen, und es sind so schöne, lustige Tiere drin, das weiß ich noch.“

Der Bub’, der sie unverwandt betrachtet hatte, nickte, noch etwas zögernd; er kramte aber dann doch sein Buch aus der Schieblade des Tischchens.

„Soll Tante Hanna dich auf den Schoß nehmen?“

Heidi sah sie unschlüssig an, es schien ihm immer noch nicht recht geheuer in der unmittelbaren Nähe dieser Tante. Nach einem tiefen Atemzug sagte er, die kleinen Schultern hebend, mit ganz roten Wangen …

„Ich kann ja auch bei dir stehen –“

„Gewiß kannst du das. Dann gieb nur her das Buch. So. Klapp auf!“

Er öffnete es auf ihren Knieen, sichtlich erleichtert durch die Erhaltung seiner Selbständigkeit. Und nun blätterten sie. Da war die Muhkuh. Und das Knuffschwein. Und der große Hund.

„Ei, was macht denn der für ein Gesicht? Der will wohl seine Suppe nicht essen?“

„Hm,“ bestätigte Heidi, eifrig nickend. „Ein ganz brummiges Sicht macht er. So!“ Er runzelte die Stirn, warf das rosige Mäulchen auf und drückte das kleine Kinn aus Hälschen heran. Hanna betrachtete entzückt die reizende Grimasse.

„O du Süßes,“ murmelte sie ganz leise. Es stieg ihr heiß die Kehle hinauf. Sie hatte es ja gewußt, hatte sich davor gefürchtet. Aber sie nahm sich zusammen.

„Ei was,“ sagte sie rasch und heiter, die unsichere Stimme zwingend. „So brummig sieht er aus?“ Sie streichelte dem „brummigen Hund“ die seidenfeinen Locken, die an den Schläfen bis auf die Schultern niederfielen und in der Sonne leuchteten wie gesponnenes Gold. Heidi wischte die liebkosende Hand ab. Sie hatte seinen Gedankengang unterbrochen.

„Du, kuck aber mal diesen kleinen Hund an. Der is lieb, nich?“ sagte er.

„Jawohl, und da ist ja auch ein Bachstelzchen. siehst du, wie es mit seinem Schwänzchen wippt? Gleich wird es über das Wasser fliegen.“

„Und da is der eklige Wolf.“

„Mir scheint, das ist eine Hyäne.“

„Eine Chijäne?“ wiederholte Heidi verblüfft. „Neee!“ sagte er dann gedehnt und seiner Sache völlig sicher. „Das weißt du gar nich. Das is der Wolf, der frißt alle arme Bähschäfchen auf. Pfui, ekliger, böser Wolf!“

Er hieb mit seinem runden, dicken Fäustchen ein paarmal kräftig auf das Bild. Der Wolf schien das gewohnt zu sein, er trug schon deutliche Spuren früherer Züchtigungen. Dann schien dem Kind etwas anderes einzufallen; es sah Hanna forschend an.

„Is eine Chijäne auch bös?“ fragte es.

„O, noch viel böser. Die frißt alle Leute auf.“

„So? Alle? Dich auch?“

„Freilich. Das ist doch garstig von ihr, was?“

„Mich auch?“ fragte Heidi sehr nachdenklich weiter.

„Ich glaube, ich glaube, wenn eine herkäme, dann fräße sie am Ende gar auch unser Heidibubi auf. So bös ist sie. Aber wir lassen sie nicht herein.“

Ein paar Augenblicke stand der Kleine ganz beklommen da; mit seinen erstaunten, ernsthaften Augen sah er unverwandt in Hannas Gesicht. Endlich atmete er tief auf. „Wenn nu aber mal eine Chijäne kommt, die mich lieb hat?“

„Ja dann!“ rief Hanna, entzückt und hingerissen von der rührenden Logik dieser Frage. „Dann thut sie dir nichts, du lieber, kleiner Kerl!“

Sie hob ihn, der sich nicht mehr sträubte und nur eifrig das Buch festhielt, auf ihren Schoß und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

Jetzt kam Helene mit ihrem Jüngsten herein.

„Aha,“ sagte sie erfreut, „schon wieder alles in Ordnung?“

„Er läßt sich wenigstens lieben,“ antwortete Hanna mit einem nochmaligen Kuß auf Heidis Stirn. Sacht ließ sie ihn dann zu Boden gleiten, während sie aufstand. „Seine Gegenwart verbietet mir, zu sagen, was ich von ihm denke,“ fügte sie, eine neue Rührung niederzwingend, heiter lächelnd hinzu. „Also da hätten wir ja die kleine Durchlaucht. Mein Gott, was ist das wieder für ein Riesenkind! Das will erst acht Monate alt sein? Unglaublich!“

„Ja, er steht seinen Mann,“ sagte Helene strahlend. Sie drückte ihren prachtvollen, blühenden Riesenjungen, der vor Lebensfreude mit Armen und Beinen hampelte, fest an sich. „Und was das schönste von allem ist, was meinst du, was er bekommt? Was er ißt und trinkt? Nur mich!“

„Wieder? Wie bei Heidi?“

„Noch besser. Den ich werd' es noch länger können. Ich esse aber auch mit wahrer Todesverachtung meine greuliche Hafersuppe in mich hinein und trinke Porter wie ein alter Zecher. Gieb nur acht, wie ich ihm schmecke.“

Sie hatte sich mittlerweile auf den niedrigen Stuhl gesetzt und einen andern für die Freundin ganz nahe herangezogen.

36.

„Ja, ja,“ sagte Hanna leise. Sie saß, den Arm um Heidi geschlungen, der, an ihr Knie gelehnt, tiefsinnig dem Brüderchen zusah, wie es sich da an seinem süßen Lebensquell wohlsein ließ. Sie saß und schaute auf dieses liebliche, sonnenbeschienene Bild von Mutter und Kind.

„Was ist dir?“ fragte Helene, erschrocken über das plötzlich von Thränen überströmte Gesicht der Freundin. „Verzeihe mir,“ sagte sie dann aber gleich sanft verstehend, demütig. Mit der freien Hand streichelte sie ihr den Arm. Am liebsten hätte sie sie ja um den Hals genommen und das arme Gesicht recht zärtlich geküßt. Aber Düttila war mit seiner Mahlzeit noch nicht fertig, er hätte eine solche Aenderung seines Programms jedenfalls sehr übel vermerkt. Die ungewohnte Zuschauerin kam seinen verwunderten, braunen Glanzaugen ohnehin schon merkwürdig genug vor. Auch Heidi ward aufs neue sehr beklommen zu Mute. Das Zittern, das er in Tante Hannas Arm fühlte, und daß sie, die mit einmal so arg zu weinen anfing, ihre Stirn an seinen Kopf lehnte, machte ihm bange. Er duckte sich und kroch aus der Umschlingung heraus. Fest an seine Mutter gelehnt, sah er zu, wie Tante Hanna ihr Taschentuch an die Augen drückte und sich zusammennahm. Das Wehweh schien vorbei zu gehen.

„Verzeih' mir, du Arme,“ wiederholte Helene leise.

„Was soll ich dir verzeihen?“ brachte Hanna mühsam heraus. Sie weinte nicht mehr; es lief aber ein nachträglicher, rüttelnder Schauder über sie hin.

„Ich möchte wirklich sagen, verzeih’ mir mein Glück. Zum wenigsten verzeih' mir, daß ich so vor dir damit geprahlt habe.“

„Wie sprichst du denn?“ wehrte Hanna mit einer matten Handbewegung; vornübergeneigt saß sie mit aufgestütztem Kopf, mit verdeckten Augen. „Rede nicht so. Du prahlst nicht. Du lebst Glück, warum sollte es da nicht sprechen? Ich vielmehr muß dich um Entschuldigung bitten wegen dieser kindischen Heulerei. Es ging so mit mir durch. Im allgemeinen bin

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_775.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)