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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

sittliches Gefühl durch Erzählungen von bedenklichen Erlebnissen oder cynisches Aussprechen sehr unbedenklicher Maximen zu empören.

Ich betrachtete das als einen Kursus in der höheren Welt- und Menschenkenntnis und machte ihr nicht die Freude, mich als Unschuld vom Lande von ihr verhöhnen zu lassen.

Wer weiß, wie lange ich es bei ihr ausgehalten hätte! Da fanden wir sie eines Morgens tot in ihrem Bette, auf dem kalten weißen Gesicht noch den Zug von rücksichtsloser Selbstsucht und um die eingesunkenen Lippen, die ein ziemlich starkes Bärtchen beschattete, eine ironische Falte.

In ihrem Testament aber hatte die seltsame Frau mir ein Legat von zweitausend Mark ausgesetzt, begleitet von ein paar freundlichen Worten für mich, die ich mit Rührung las und dabei der Widersprüche gedachte, die ein Charakter, der uns offen zu liegen scheint, in seinem Innersten verbergen kann.

Jetzt aber war ich frei und schwor mir zu, mich nicht wieder in eine persönliche Dienstbarkeit zu schmiegen. Zum Studium einer Wissenschaft war ich zu alt geworden, auch hätten meine Mittel dazu bei weitem nicht ausgereicht. Aber für ein paar Jahre war bei meiner frugalen Lebenweise ausgesorgt, und in dieser Zeit konnte ich mich zu einem praktischen Beruf vorbereiten.

Ich kehrte nach Berlin zurück und trat in eine Handelsschule ein. Mein Ehrgeiz ging nicht höher, als Buchhalterin zu werden. Ich war so eifrig bei diesem neuen Bestreben, so vollständig mein Verzicht aus Beschwichtigung meiner höheren geistigen Triebe, daß ich mir selbst ganz fremd vorkam, wenn ich mich im Spiegel betrachtete. Das Leben freilich, das ich führte, war von einem Scheintode nur dadurch unterschieden, daß die junge Leiche von Zeit zu Zeit das Bedürfnis fühlte, ihr altes Sterbekleid mit einem nach neuerer Mode zu vertauschen.

Mein Bruder war indessen als Assessor nach Berlin gekommen und hatte das Ziel seiner innigsten Wünsche, die Verlobung mit einem reichen Mädchen, erreicht. Er wollte nichts davon wissen, daß ich ferner darauf ausging, mir in einer subalternen Stellung meine Unabhängigkeit zu wahren. Es schien ihm wohl hauptsächlich gegen die Ehre zu gehen, eine Schwester zu haben, die als Buchhalterin in seinen jetzigen Kreisen sich nicht sehen lassen dürfe.

Ich blieb aber auf meinem Willen und erklärte ihm, daß mir „seine Kreise“ nicht verlockend genug seien, um die Genugtuung, mir selbst mein Leben zu verdanken, dafür aufzugeben.

Und so säße ich heute wohl, statt diesen Brief zu schreiben vor einem dicken rotregistrierten Kassabuch und malte schöne Zahlen in die Rubriken von Soll und Haben, hätte nicht ein gütiger Zufall sich ins Mittel gelegt und mich nach dem ersten Lehrjahre der doppelten Buchführung abtrünnig gemacht.

Davon in meinem nächsten Brief, liebster Schatz. Du wirst ihn ruhiger erwarten können, da Du jetzt „Land siehst“. Einstweilen lege ich Dir die Photographie des lieben Steuermannes bei, der mein Lebensschifflein aus allen Stürmen und Klippen herausgelenkt hat.

Yours truly

Martha.     


Fünfter Brief.
13. Oktober abends.     

Es hat mir sehr wohlgethan, liebste Freundin, daß mein lieber Gemahl auch vor Deinen Augen Gnade gefunden hat, obwohl er kein sogenannter „schöner Mann“ ist und es dem Photographen versagt war, ihn „sprechend ähnlich“ zu machen. Denn wenn Du ihn sprechen hörtest, würdest Du begreifen, wie er in der ersten Stunde unserer Bekanntschaft mein Herz für immer gewinnen konnte.

Es macht aber Deinem physiognomischen Scharfblick Ehre, daß Du aus diesem stummen Konterfei die Grundzüge seines Wesens herausgelesen hast, seine Kraft und Güte, seinen Seelenadel und Wahrheitssinn, und trotz der dicht zusammengewachsenen Brauen und des Bartgestrüpps um den Mund hast Du ihm sogar den kindlich harmlosen Humor zugetraut, der ihn in lichten Intervallen zwischen seiner aufreibenden Thätigkeit so besonders liebenswürdig macht.

Du bist eben als Aerztin eine Seelenkundige, die sich nicht bloß auf die Diagnose leiblicher Zustände versteht.

Ja, Liebste, er ist ein seltener Mensch, und ihn zu besitzen, wäre eine himmlische Belohnung, selbst wenn ich ein weit schlimmeres Fegefeuer überstanden hätte, als mir verhängt war.

Wie wir uns gefunden haben, ist zum Glück so kurz erzählt, daß Du nicht zu fürchten brauchst, mit einem langen Liebesroman voll „Langen und Bangen“ in schwelender Pein behelligt zu werden.

Ich besuchte in Berlin zuweilen die Vorträge, die in einem Volksbildungsverein gehalten wurden, wenn mich die Themata reizten. Freilich trug ich oft genug nun erst recht eine brennende Sehnsucht mit heim, die Anregung, die ich empfangen, gründlicher auszubeuten und die Trauer darüber, daß dazu keine Aussicht war. Doch war’s immerhin eine Birne für den Durst, eine kleine geistige Erfrischung nach den ermüdenden Stunden in meiner Handelsschule.

An einem der Abende sollte ein fremder Arzt einen Vortrag halten über das Verhältnis des Willens zu unserem Nervenleben. Das interessierte mich sehr und ich ging zeitig mit einer Bekannten hin.

Das erste Auftreten des Redners versprach nicht eben viel. In einen solchen Lehrer, sagt’ ich mir, würden wir uns in unserer höheren Töchterschule nicht verliebt haben.

Er hatte aber kaum fünf Minuten gesprochen, so hing ich an seinen Lippen und als er nach fünf Viertelstunden geendet hatte, saß ich wie in einen Traum verloren, in dem mir der Klang seiner Stimme noch immer im Ohre forttönte und der feste, helle Blick seiner Augen mich mit Licht und Wärme zugleich überflutete.

Man pflegte in dem Saale, wo die Vorträge gehalten wurden nach ihrem Schluß noch zusammenzubleiben, die Herren vom Vorstand mit ihren Familien und wer sonst ihren Kreisen näher stand. Ich war immer fortgegangen, aus Sparsamkeit, da mein bescheidenes Abendessen zu Hause mich weniger kostete. Diesmal blieb ich mit meiner Begleiterin. Ich konnte es nicht übers Herz bringen, zu deuten, daß der Mann, der es mir so mächtig angethan, nächster Tage verreisen sollte und ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde.

Ich blieb also und bestellte mir ein Glas Bier und ein Brötchen, und wir setzten uns an ein leeres Tischchen in schicklicher Entfernung von der ansehnlicheren Gesellschaft. Wir sprachen eifrig von dem eben Gehörten, ich äußerte meine Unklarheit über einiges, was mir dunkel geblieben war oder was mit früher gefaßten Meinungen im Widerspruch stand, und ließ dabei kein Auge von ihm, der sich in heiterer Unterhaltung bald zu diesem, bald zu jenem wandte.

Indem er so, alte Bekannte begrüßend, durch den Saal ging, kam er einmal unserem Tische ganz nahe. Da erkühnte sich meine Begleiterin, die mich schon mit meinem Interesse für ihn geneckt hatte, ihn anzureden und zu meiner tödlichen Bestürzung ihm zu verraten, daß hier eine Zuhörerin sitze, die nicht mit allem, was er gesagt, einverstanden sei.

Er richtete sogleich freundlich das Wort an mich, erbot sich ohne jede überlegene Herablassung zu dem beschränkten Weiberverstande, mir auf meine Fragen Rede zu stehen, und setzte sich zutraulich auf den Stuhl mir gegenüber. Ich faßte mich dann auch rasch nach der ersten Verwirrung, und nun hatten wir ein sehr angeregtes Gespräch, das ihn selbst zu fesseln schien. Wenigstens verabschiedete er sich nicht eher, als bis einer der Vorstände an unseren Tisch kam, ihn an die Polizeistunde zu erinnern, die seine Damen nach Hause trieb.

Beim Abschied hatte er noch versprochen, mir eine kleine Schrift von Kant zu schicken, die ein ähnliches Thema behandelte und die er in seinem Vortrage citiert hatte, „Ueber die Macht der Vernunft“, unserer krankhaften Zustände Herr zu werden oder wie der Titel genauer heißen mag.

Statt sie zu schicken, brachte er sie mir selbst. Als er nach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_782.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2017)