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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

wäre doch wohl noch anders geworden. Schrecklich, wie heiße, schwere Tropfen waren ihr die abgebrochenen Worte des Kranken auf das Herz gefallen. Etwas Böses gethan hatte sie nicht – das war es nicht, was sie peinigte –, aber etwas Gutes, Versöhnliches zu thun unterlassen. Nun war es zu spät. Die tiefe Bitterkeit dieser Erkenntnis kam ihr heute zum erstenmal. Sie fraß mit ihrer ätzenden Schärfe unheilbare Wunden. Zu spät! Nicht mehr gutmachen können! Nicht mehr einholen können. Versäumtes! Der da mit dem Tode rang – ja, er hatte ihr weh gethan, oftmals, ernstlich weh, er hatte ihr das Leben verbittert nach allen Kräften, nachdem er es an sich gerissen und mit dem seinigen verbunden hatte. Aber seine Hassesthaten waren aus unerwiderter, verwilderter Liebe entsprossen. Eine unheilvolle Saat! Warum wußte sie das erst heute so klar? Warum hatte sie nicht schon früher versucht, seine harte Faust zu lösen, zu glätten, statt sich nur vor ihr zu verkriechen? Mußte er erst machtlos in schweren Schmerzen liegen, um ihr keine Furcht mehr einzuflößen? Mußte erst der Tod in das Zimmer schleichen, derweil sie schlief, und die Hand auf seine Stirne legen und die zweite Schrift lebendig machen, einmal noch, vor dem endlichen Erlöschen – die zweite – nein, die erste, die untere Schrift, die sie niemals gesehen hatte? Zu spät! Fürchterliches Werk.

Hanna rang zitternd die Hände ineinander. Jetzt beten können! Wo war der Himmel ihrer gläubigen Kindheit geblieben? Töte ihn nicht, lieber Gott! Ich will es noch einmal versuchen ich will es besser machen! Töte ihn nicht! – Wenn er es hörte, wenn er noch da wäre, wo sie ihn früher – ach vor undenklicher Zeit! – so sicher gewußt hatte. Nicht beten können in schwerer Herzensnot! Nicht glauben können! Die Wüste. Die Finsternis!

Draußen rauschten die Bäume auf. Kam noch ein Nachtwind herüber? Durch die offenen Fenster wehte es frisch herein. Hanna schauerte zusammen. Vielleicht wurde es doch zu kühl. Gestern waren sie zur Nacht auch nur angelehnt geblieben.

Leise erhob sie sich. Aber das Hinstreifen ihres Kleides am Bettrand hatte den Träumenden doch geweckt. Er rührte sich in der fast völligen Dunkelheit sah sie undeutlich, daß er den Kopf zur Seite wendete.

„Was ist denn?“ fragte er leise, mit dünner, flachklingender Stimme.

„Ich will nur die Fenster ein bißchen mehr zumachen,“ antwortete sie, die gleich stehen geblieben war. „Es ist windig geworden.“

„Dunkel. – Seh’ dich nicht.“

„Ja, dunkel ist es, ich mach’ aber auch gleich Licht. Ich wollte dich nur nicht unnötig wecken.“

„Bleib’ da. – Geh’ nicht weg.“

„Ich bin im Augenblick wieder bei dir. aus dem Zimmer geh’ ich nicht, sei unbesorgt – Siehst du, da bin ich schon. Nun dreh’ ich nur hier an der Seite auf, da trifft die Helligkeit nicht in deine Augen.“

Sie entzündete die elektrische Lampe an der Wand, ein Bündel von vier blaßblauen Blumenkelchen.

War es die magische Beleuchtung, die sein Gesicht so veränderte? Aber sie kannte ja dieses Licht. Sie wußte, als sie sich jetzt über ihn beugte: Er stand zu Häupten. Er mit der Sense.

„Komm näher,“ sagte Ludwig mühsam. Er hob die Hand. „Bleib’ bei mir“

„Gewiß bleib’ ich bei dir. Ich rühre mich nicht mehr weg von dir. Verlaß dich darauf.“

Jetzt nur nichts mehr versäumen, schoß es durch sie hin wie eine Flamme. Jetzt nur alles, alles thun, was hier zu thun noch übrig bleibt.

„Du fühlst dich besser, nicht wahr?“ sagte sie, auf seinem Bettrand niedersitzend und seine Hand – wie sie glühte! – in ihre beiden nehmend. „Ich bin so froh, du hast schon beinahe eine halbe Stunde lang nicht gehustet; das ist ein schöner Fortschritt.“ Sie nickte ihm lächelnd zu.

Er erwiderte das Lächeln nicht. Nach ein paar gequälten Atemzügen sagte er tonlos: „Ich geh’ kaputt“.

„Was redest du da,“ verwies sie ihm freundlich vorwurfsvoll. „Wenn du nichts Gescheiteres zu sagen weißt, darfst du den Mund nicht mehr aufthun. Krank bist du, das ist sicher, tüchtig krank, aber vom Sterben ist keine Rede! Denk’ doch, bei deiner prachtvollen Natur. Du wirst der Krankheit Herr, da ist keine Not. Ein paar Tage Geduld, und du siehst schon ganz anders aus den Augen. Wart es nur ab.“

Er schüttelte schwach den Kopf. „Lüg’ nicht. – Ist ja Unsinn. – Der alte August lügt auch…. Gebt euch keine Mühe!“

Sie legte ihm sacht einen Finger auf den Mund.

„Schweig,“ sagte sie lächelnd. Erstens, weil du ungereimtes Zeug redest, und zweitens, weil du dich nicht anstrengen sollst. O weh, siehst du, da kommt der Husten und mahnt dich!“

Er mahnte streng. Stöhnend, bis zum Aeußersten erschöpft, lag der Kranke nach dem Anfall in seinen Kissen. Meinhardt war leise eingetreten.

„Er ist zu niedrig gebettet,“ sagte er jetzt gedämpft „Ich werde ihn heben, rücken Sie die Kissen.“

Ludwig öffnete die Augen und verzog das Gesicht; zu sprechen war ihm nicht möglich. Mit der halberhobenen Hand machte er eine unsicher flackernde Bewegung.

„Ich soll hinaus?“ fragte der alte Herr. „Zu Befehl, Majestät. Lassen Sie sich nur erst zurechtlegen’.“

„Ich nehme ihn einfach wieder in den Arm,“ sagte Hanna, „das ist das beste. Die Kissen sinken doch wieder zusammen. An meiner Schulter, wenn ich ihn halte, lehnt er sich prächtig an. Nicht wahr, du, das ist auch deine Meinung? Er lächelt, sehen Sie wohl, ich wußt’ es ja.“

Sie richteten ihn auf. Hanna, mit dem Arm um seinen Nacken, hielt ihn fest. Damit sie besser aushalte, baute ihr der Doktor von Kissen eine kunstreiche Stütze.

Nun waren sie wieder allein.

„Das war aber ein böser Anfall, du Armer,“ sagte Hanna liebreich. Sie begegnete seiner auf der Bettdecke suchenden Hand und hielt sie fest. „Nun sei du aber ganz still. Mich laß reden. Ich erzähl’ dir was. Wenn du so weit bist, daß wir reisen können, dann pack’ ich dich ein und wir gehen hinunter nach Italien oder auch, was vielleicht noch besser wäre, gleich nach Madeira für den ganzen Winter. Und unterwegs, weißt du, da fangen wir beide unser Leben in aller Stille von neuem an. Und dann wird es plötzlich sehr schön! Glaubst du nicht? Du mußt aber nur nicken.

Er stieß einen unverständlichen Laut aus und schüttelte den Kopf.

„Laß das,“ sagte sie, mit der Hand, die auf seiner Schulter lag, seine Wange und Schläfe anrührend. „Das Schütteln thut dir nicht gut, es ist auch eine falsche Antwort.“

Sie beugte sich etwas vor, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Ich weiß, warum du zweifelst, Ludwig“, sagte sie in tiefem Ernst. „Du meinst, ich hätte dich ja doch nicht lieb. Ist es nicht so?“

Er winkte mit den Augenlidern Ja.

„Nun, laß dir sagen, Ich hab’ in diesen Stunden viel erlebt. Wenn du erst gesund bist, sollst du alles einzelne hören. Heute nur die Hauptsache. Seit ich weiß, daß ich dich verlieren könnte, weiß ich erst, wie gut ich dir bin. Und ich bitte dich viel vielmals um Verzeihung für alles, was ich bisher dumm gemacht habe, und für alles, womit ich dich bisher aus Mißverstehen gekränkt habe. Hörst du, was ich dir sage? Ich hab’ dich lieb. Vergiß es nicht! Und erinnere mich an diese Stunde, wenn es einmal wieder nicht so zwischen uns ist, wie es sein sollte. Ich hab’ dich lieb.

Er sah sie an mit einem Blick, der ihr die Thränen in die Augen trieb, durch diese Thränen lächelte sie ihm zu. Seine Lippen formten ein unhörbares Wort. Sie verstand es, neigte sich tiefer und küßte ihn.

Er atmete stöhnend tief auf und drückte den Kopf in den Nacken.

„Schade!“ sagte er laut, mit heiserer zerbrechender Stimme.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_806.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)