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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

zu ewiger Verbannung verdammen. Ich weiß nicht, ob Sie oder Ihr Mann mir je verzeihen werden. Aber glauben Sie mir, die Buße, zu der ich mich verurteile, Sie nie wiederzusehen ist eine Pein, mit der die Verbrecher in den Bergwerken Sibiriens nicht tauschen würden. Und so – leben Sie wohl! Ich wage nicht einmal, Sie noch um eine Hand zum Abschied zu bitten. Und sprechen Sie nichts. Ich möchte Ihre Stimme mit fortnehmen, wie ich sie zuletzt gehört, voll Mitleid und Sorge um einen Unglücklichen.“

Ehe ich noch zu mir selbst kommen konnte, hatte er sich zu mir herabgeneigt den Aermel meines Kleides ergriffen und einen Kuß darauf gedrückt. Dann war er aus der Thür gestürzt, und ich hörte nur noch, wie die Kathi ihm seinen Hut und Mantel auf die Treppe hinaus nachtrug.

Ich sollte ihn nicht wiedersehn. Am Abend kam ein Billet von ihm an meinen Mann, er sei plötzlich durch eine telegraphische Depesche nach St. Petersburg abgerufen worden. Von dort aus werde er Näheres hören lassen.

Acht Tage sind vergangen, der versprochene Brief ist nicht gekommen. Er wird auch nie kommen, sagte Hellmuth. Und was sollte er uns auch noch zu sagen haben?

*  *  *

So weit war ich gestern gekommen, und kann heute nur wiederholen: was sollte ich Dir noch zu sagen haben? Und doch, noch eine Hauptsache: daß mein geliebter Mann auch in diesem Wirrsal sich als der unerschütterlich feste und klare, milde und gütige Nothelfer bewährt hat, den ich immer in ihm bewundert hatte.

Denn er fand mich, als er eine Stunde später nach Hause kam, in einer kläglichen Verfassung. Er erschrak, da er glaubte, ich sei plötzlich krank geworden. Als ich ihm erzählt hatte, was mir begegnet war, und dann in Thränen ausbrach, wiegte er den Kopf, sah mich mit tiefem Mitleid an und sagte endlich: „Armes Kind! Es ist also gekommen, was ich gefürchtet habe!“ – Ich sah aus meinen Thränen auf und sagte: „Du hast es kommen sehen? Warum hast du mich nicht gewarnt?“ – „Weil ich deiner sicher war und von ihm hoffte, er werde noch die Kraft finden, sich zu bezwingen, wenn auch nur aus Furcht vor der Beschämung, auf die er, wie er dich kannte, gefaßt sein mußte. Wäre ich eingeschritten und du hättest ihn von dir entfernt, so würde er sich haben einbilden können, du fürchtetest eine Gefahr für dich. Nun ist die Krisis ohne unser Zuthun eingetreten und so betrübend es ist, wieder einen Menschen verloren zu haben, es ist doch ein Gewinn, daß wir nun wieder auf uns selbst angewiesen sind und darauf denken müssen, wie wir's in Zukunft klüger anfangen sollen.“

Er war den ganzen Abend ungewöhnlich weich und heiter und um mich besorgt, verschonte mich auch mit weiteren Betrachtungen über das Vorgefallene und erzählte nur gegen seine Gewohnheit von einigen interessanten Krankheitsfällen, die ihm unter tags vorgekommen waren.

Auf einmal sagte er: „Weißt du, Kind, was du thun könntest? Mir bei meinem mühsamen Geschäft ein wenig an die Hand gehen. Es ist für den Menschen nicht gesund, nur ein geistiges Leben zu führen. Wenn man sich umsieht in der Welt, ja nur in seiner nächsten Nähe, findet man nur allzu viel Gelegenheit, thätig zu werden und zur Milderung des Weltelends das Seinige beizutragen. Das giebt eine innere Befriedigung, die wohlthuender ist als die Lösung der spitzfindigsten Rätselfragen. Ich will dich nicht etwa dazu anregen, einen Wöchnerinnen- oder Volkssuppenverein zu gründen, obwohl dergleichen auch in unserer Stadt einem ‚längstgefühlten Bedürfnis‘ abhelfen würde. Du hast es zum Glück näher, wenn du mich dann und wann begleiten und mit deinen kundigen Frauenaugen mich darauf hinweisen willst, woran es in den Häusern der Armut am dringendsten fehlt. Ich sehe oft nur, daß meine Kranken in übler Lage sind, und suche dem mit Geld ein wenig abzuhelfen. Aber eine Frau verstände es besser, und oft ist ein bißchen Wäsche und etwas Vorrat in die Küche wirksamer, der Not zu steuern, als ein Stück Geld, das unzweckmäßig verwendet wird. Wir haben’s ja dazu.“

Du mußt nämlich wissen, Mary, daß wir in diesem Jahre uns ganz anders rühren können als zu Anfang. Dimitri hat an gute Freunde in seiner Heimat ein so großes Rühmens gemacht von seinem „genialen“ Arzt, daß eine Menge reicher Russen ihr Heil bei ihm gesucht haben. Der erste Gasthof der Stadt ist in kurzem eine Art Privatklinik des Doktor Born geworden, und wenn er wollte, könnte er ein Modearzt werden, der sich um arme Tagelöhner und Handwerker nicht mehr kümmern müßte. Aber Du kannst denken, daß ihm diese einträgliche Praxis nur darum erwünscht ist, weil sie ihm die Möglichkeit giebt, nun auch da zu helfen, wo die Arzenei nicht aus der Apotheke zu holen ist.

Gleich am anderen Tage bin ich mit ihm über Land gefahren, nach einem Dorf, das von einer Scharlachepidemie heimgesucht worden ist. Als ich abends mit ihm zurückkehrte, hatte ich Kopf und Herz so voll von all dem, was ich an Elend und Not gesehen hatte, daß für philosophische Grübeleien kein Platz mehr darin war, und anderen Tages hatte ich alle Hände voll zu thun mit Anschauungen und Vorbereitungen für unseren nächsten Besuch.

Mein Mann nennt mich seinen Assistenten. Ich bin stolzer auf diesen Titel, als wenn ich ein Dr. phil. vor meinen Namen schreiben dürfte.

Und er nimmt meinen Beistand auch noch zu anderem in Anspruch. Es kommen Patienten in seine Sprechstunde, die einer fortwährenden Behandlung bei chronischen Leiden bedürfen täglich eine Einspritzung ins Auge oder einen neuen Verband erhalten müssen. Dazu hat er mich nun angeleitet, da ihm selbst die Arbeit über den Kopf wuchs. Ich habe eine geschickte Hand, und die Freude, Schmerzen lindern zu können, hat mich bald den natürlichen Schauder vor allerlei menschlichen Wunden und Gebrechen überwinden gelehrt.

Manchmal denk’ ich, dies sei auch eine Art, die Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückzuführen, wenn auch Sokrates nichts damit zu schaffen hat.

Und nun, liebes Schwesterherz, nehme ich für ein Weilchen Abschied von Dir.

Laß mich’s gestehen – seit meine Hand sich in so ganz anderen Geschäften thätig beweisen muß, ist ihr das Schreiben verleidet. Das Heft Matuschkas habe ich im untersten Fach meines Schrankes vergraben. Hellmuth sagt zwar, ich würde es noch eines Tages wieder hervorholen, um es fortzusetzen, wenn wir älter geworden wären und er vielleicht nicht mehr die Kraft hätte, in Wind und Wetter herumzukutschieren. Dann wolle er selbst seine alten Kollegienhefte wieder zur Hand nehmen und versuchen, den Faden da mit mir fortzuspinnen, wo der arme Dimitri ihn abgerissen hat. Einstweilen trage ich kein Verlangen danach. Aber er mag wohl recht haben: wenn man aufhören muß, thätig zu sein, kann man Gott danken, wenn er einem die Fähigkeit verliehen hat, die Welt mit klaren Augen zu betrachten, in der zu wirken einem nicht mehr vergönnt ist.

Ich umarme Dich, Liebste, und danke Dir für Deine Güte und Geduld, mit der Du meiner oft so unholden Beichte nicht nur Dein Ohr, sondern auch Dein Herz geliehen hast. Küsse Deine Kinder und denke zuweilen, auch wenn sie nur selten mehr von sich hören läßt, Deiner alten ewigen                 Martha.


Zehnter Brief.

Ein Jahr später.     
Ich wollte Dir erst schreiben, wenn alles glücklich vorüber wäre. Aber Dein lieber, zärtlicher Brief, der mir beweist, daß es Dir ein Bedürfnis ist, mit mir fortzuleben, drängt mir die Feder in die Hand.

Ja, Liebste, mein heißester Wunsch soll in Erfüllung gehen, die weise Frau sagt, schon in den allernächsten Tagen!

Seit zwei Monaten hat Hellmuth seinem „Assistenten“ nur noch im Hause zu thun gegeben. Die Fahrten über Land auf oft grundlosen Vicinalwegen hätten mir schaden können. Ueberdies, wie Du denken kannst, ließ mir die Sorge für die kleine Ausstattung wenig Zeit für meine Patienten, denn obwohl ich – Du entsinnst Dich – gegen das Vorurteil der guten alten Zeit mich ereifert habe, daß jedes Stück Wäsche, das im Laden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_816.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)