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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

zurück. Langsam, denn es hatte sie ein krampfhaftes Zittern erfaßt. Ein Zittern der Furcht. Das Leben von draußen, vor dem sie in diese tiefe Stille geflohen war, hatte einen Ruf ausgestoßen. Einen noch schwachen, kaum vernehmbaren Ruf. Aber doch ihren Namen! Voll Unruhe betrachtete sie Rettenbachers Brief. Was schrieb er ihr da? Was wollte er von ihr? Sie war ihm so dankbar gewesen für sein Schweigen in all dieser Zeit. Sie hatte daraus gefühlt: Er verstand sie. Und nun? Was wollte er? Das Herz schlug ihr schwer und beklommen.

Ich will erst den andern lesen, beschloß sie, tiefer Atem holend. Der wird mich wieder ruhig machen. – Sie öffnete ihn schon im Gehen, den unerwarteten ließ sie in das Körbchen gleiten, das ihr am Arm hing. An der Rundbank unter der Ulme angekommen, setzte sie sich und las:

„Mein liebes Kind!

Ihr Vorschlag – Sie sehen, ich vermeide auf Ihre Bitte das zutreffendere Wort Einladung –, Ihr hübscher feiner Vorschlag ist als Samenkorn in ein wohlbereitetes Feld gefallen und hat alsbald Wurzel geschlagen. Es war schon seit Wochen mein herzlicher Wunsch, den Amtsrock für ein Weilchen an den Nagel zu hängen und in behaglicher Faulheit irgendwo draußen im Grünen meinen allzu müden sechzig Jahren etliche Erholung zu gönnen. Die Bewilligung meines Urlaubsgesuches für acht Wochen hatte ich schon in der Tasche, als Ihr Brief eintraf. Man hat ihn mir angesichts dieses schwer überstandenen Winters offenbar gern, jedenfalls sehr rasch gewährt. Der Wunsch, Sie wiederzusehen, mein liebes Schmerzenskind, war schon lange sehr lebhaft in mir. Auf den Gedanken freilich, anstatt eines kärglichen Plauderstündchens ihrer viele und ungestörte genießen zu können, war ich nicht gekommen. Ihr Brief nun hat meinen noch unklar schwankenden Reiseplänen mit einem Schlage eine feste Richtung gegeben, und ich bitte Sie, mir zu sagen, bis wann Krügers gute Stube für mich zurechtgerückt sein kann. Ihrer Beschreibung nach muß sich diese Sache ja mit verhältnismäßig geringer Mühe einrichten lassen, und Frau Krüger soll an mir einen bescheidenen und sanften Pensionär bekommen.

Also denn, auf Wiedersehen, meine liebe Hanna, auf fröhliches, gesundes Wiedersehen. Wir haben allerlei zu besprechen, vielmehr ich habe Ihnen noch viel zu sagen, wieder und immer wieder, und daß ich diesmal nicht mehr tauben Ohren predigen möge – das wünsche ich von Herzen.

Ihr alter Freund
Erdmann."     

„Er kann morgen abend schon hier sein,“ sagte Hanna vor sich hin, indem sie das Blatt langsam zusammenfaltete. „Wenn's nach uns ginge, schon heute; aber ich muß ihm ja erst schreiben. Gleich werd' ich’s thun, dann bekommt er ihn morgen mit der ersten Post.

Sie stand aber nicht auf. Sie hatte ja noch den andern Brief zu lesen, der da stumm und weiß neben ihr lag und wartete. Eine Weile saß sie noch so da, die Hände fest ineinander geschlungen, in einer Unruhe, die immer quälender wurde.

„Ich bin kindisch,“ sagte sie endlich fast laut. „Vielleicht ängstige ich mich ganz vergebens. Es muß ja nicht das sein. Sie fühlte freilich in dem selben Augenblick wie einen Rückschlag die Frage: was denn sonst? – Aber sie hielt doch endlich den geöffneten Brief in der Hand.

„Verehrte Freundin!

Eine vollständige Aenderung meiner Verhältnisse zwingt mich, Berlin binnen kurzem zu verlassen und da ich nicht dahin zurückkehren werde, habe ich den Wunsch, mich persönlich von Ihnen zu verabschieden. Aus keinem andern Grunde würde ich mir erlaubt haben, die Ruhe, deren Sie zu seelischer und körperlicher Gesundung dringend bedürfen, schon jetzt zu unterbrechen. Meine freie Zeit ist nun leider so karg bemessen und so genau eingeteilt, daß es mir unmöglich ist, Ihre besondere Erlaubnis zu meinem Besuch und Ihre Bestimmung über die Zeit dazu erst erbitten zu können. Verzeihen Sie gütigst die Formlosigkeit, mit der ich diesem Brief, der nur noch Bote sein kann, auf dem Fuße folgen werde. Ich benutze den Mittagszug und bin zu einer sehr frühen Nachmittagsstunde schon bei Ihnen. Mein Brief kann mithin nur ganz kurz vor mir eintreffen.

Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener          
Arnold Rettenbacher.“     

Erleichtert aufatmend ließ Hanna das Blatt sinken.

Also doch vergeblich gefürchtet. Richtig wie ein dummes Kind im Finstern. Das Weiße in der Ecke, das ist also nur ein Tuch. Was er will, ist nur Abschied, endgültiger Abschied.

Es fuhr dann auf einmal durch sie hin, wie eine feine, scharfe Flamme, dieses: Nur Abschied. Wie lange war es denn her, daß der erste Abschied von ihm ihr das Herz zerschnitten hatte? Wohl tausend Jahre.

Aus diesem, ganz verträumtem Sinnen schreckte sie auf, als Packan, der ihr nachgetrottet war und anfangs das Gebüsch nach Feinden seiner Laune durchstöbert hatte, sich zu ihren Füßen niederlegte und dabei ihr Kleid, auf dessen Saum er unbedingt mit der Schnauze liegen mußte, herabzog.

„Ja, ja,“ sagte sie, sich zu ihm neigend, und streichelte ihm den Kopf, „das denkst du dir so, Gelber. Aber mit dieser Faulenzerei kann's nicht so weitergehen. Wir haben noch zu thun, steh' auf. Müssen Onkel Pastors Zimmer einrichten.“

Packan erhob langsam den Kopf von den ausgestreckten Vorderpfoten und sah sie aus seinen großen, braunen Augen träge verwundert an. Er gähnte dann, daß ihm die Kinnladen knackten.

„I wo denn,“ sagte er endlich mit einem sanft schnaufenden Ton durch die wieder geschlossenen Lefzen – so gut hochdeutsch, wie es ihm, dem gemeinen Dorfköter, möglich war, „wie wirst du denn? Bei die Hitze! Schlaf' lieber en Endeken. Ich auch. Auf'n Abend is es dann kühler.“

„Fauler Kerl,“ schalt Hanna und puschte ihn sacht mit der Fußspitze in die Flanke. „Meinetwegen bleib' du liegen.“

Sie zog ihren Kleidersaum unter seinen breiten Pratzen hervor und stand auf. Als er sah, daß sie Ernst machte, erhob er sich gleichfalls, reckte sich, schüttelte sich und trabte ihr nach. Aus dem Schatten ging Hanna wieder in die Sonne, unter den Obstbäumen hin, und gegenüber der verlassenen Frühstückslaube zur Hausthür, der mit dem griechischen Säulendächelchen, hinein.

In ihrer Wohnstube that sie Buch und Arbeitskorb an ihren Platz, schloß auch die beiden Briefe in die Schreibtischlade. Mit hastigen Schritten – es war eine nervöse Unruhe über sie gekommen – verließ sie dann das Zimmer wieder, ging den langen Korridor an der Krügerschen Wohnung hinunter bis ans Ende, bis zur „guten Stube“, zu der sie sich den Schlüssel heute früh hatte geben lassen. Dumpfe, tote Luft empfing sie, tiefe Dämmerung. Nicht nur die Fenster, auch die Läden waren geschlossen, um den farbenauffangenden Sonnenschein von den schönen roten Plüschmöbeln fernzuhalten. Die Aussicht auf vermehrte Einnahme hatte Mutter Krügern leicht vermocht, eine Weile auf ihren Salon zu verzichten. Abgesehen von den seltenen Fällen, daß man Besuch aus Berlin feierlich in ihm empfing, bestand ja doch seine hauptsächlichste Benutzung darin, daß man Sonntags auf Strümpfen hineinging, um sich in seinem hochfeinen Heiligtum umzusehen. Und so voll Möbel stand die Stube nicht, daß man nicht leicht ein Bett nebst etwas Schlafstubenzubehör darin hätte unterbringen können.

Hanna öffnete die Scheiben und legte die Läden an. Da zwei Fenster nach vorn hinaus schauten, das dritte im rechten Winkel zur Seite, so gab es einen sanften Luftzug in dem unbelebten Raum. Der sollte bis zum Abend so weiter wehen und morgen, nachdem sich die Sonne von dieser Hausseite empfohlen hatte, wieder. Hanna prüfte, die Hände auf den Sims gestützt, mit raschem Umblick nochmals die Aussicht von dem seitlichen Fenster. Es war die hübscheste, die das Haus hatte. Man sah den in der Nähe ansteigenden, kleinen baumbestandenen Hügel hinauf, der dem recht ansehnlichen langgestreckten Gehölz zustrebte und sich an der Vorderseite noch gar mit Hilfe eines steilen, lehmfarbenen Absturzes nach Kräften

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 858. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_858.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)