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Himmel und Erde, verschafft mir Erbarmen! Sie antworteten: Ehe wir für dich Erbarmen erflehen können, haben wir für uns selber Erbarmen zu erflehen; denn es ist gesagt: Die Himmel werden wie ein Rauch vergehen, und die Erde wird wie ein Kleid veralten. Da rief er: Sonne und Mond, verschafft mir Erbarmen! Sie antworteten: Ehe wir für dich Erbarmen erflehen können, haben wir für uns selber Erbarmen zu erflehen; denn es ist gesagt: Der Mond wird sich schämen und die Sonne mit Schanden bestehen. Da rief er: Ihr Sterne und Planeten, verschafft mir Erbarmen! Sie antworteten: Ehe wir für dich Erbarmen erflehen können, müssen wir für uns selber Erbarmen erflehen; denn es ist gesagt: Und alles Heer der Himmel wird vermodern. Da rief er aus: So bin ich denn auf mich selbst angewiesen; – er senkte sein Haupt zwischen die Kniee und schrie unter Weinen so lange, bis seine Seele ausfuhr und eine Himmelsstimme erscholl: Rabbi Elazar B. Durdaja ist bestimmt für das künftige Leben.“[1]

Dr. Rohling findet diese Erzählung um so entsetzlicher, weil es am Schlusse heiße, Gott habe bei Eliesers Tode vom Himmel gerufen, Elieser sei zum ewigen Leben eingegangen. Wir können das nach der Erzählung vom verlorenen Sohne, der sein ganzes Vermögen mit Hetären durchgebracht, nicht entsetzlich, nicht einmal auffallend finden; ja, wir würden selbst keinen Anstoß daran nehmen, wenn beigefügt wäre, im Himmel sei eine größere Freude über den Sünder Elieser, der Buße gethan, als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Aber Dr. Rohling fügt auch noch bei: „Da es kurz vor der Geschichte Eliesers heißt, die Ketzer würden selbst umkehrend den Pfad des Lebens nicht finden, so ist die Moral aus dem Ganzen: Bleibe nur hartnäckig Jude, so wird dir schließlich alles nachgesehen!“ Dieser Schluß ist offenbar unrichtig, weil er auf die überaus große Buße und Reue Eliesers, die so groß war, daß sie seinen Tod herbeiführte, keine Rücksicht nimmt. Der richtige Schuß ist der: Um Verzeihung von Gott zu erlangen, ist der Glaube nötig und die Buße; der Glaube ist die Wurzel der Rechtfertigung, und ohne Glauben ist es unmöglich, daß auch die strengste Buße Gott gefalle. Durch den Glauben und die Buße kann man aber auch für die allerschwersten Vergehen Verzeihung von Gott erlangen.

Wenn ich darum auch weit entfernt bin, alles zu rechtfertigen, was etwa im Talmud enthalten ist, so bin ich doch auch andererseits wieder der Meinung, daß in mancher Erzählung des Talmud, die auf den ersten Anblick anstößig erscheint, eine religiöse oder sittliche Wahrheit verborgen liegt. Wenn man aber den Juden nahelegen wollte, sie möchten die Spreu aus dem Talmud beseitigen, so werden die Juden sich dazu nicht herbeilassen wegen der Anschauungen, die sie hinsichtlich der Unabänderlichkeit nicht bloß der heiligen Schrift, sondern auch des Talmud hegen.

Welche Anschauungen in dieser Hinsicht das jüdische Volk zu


  1. Rohlings Talmudjude, beleuchtet von Franz Delitzsch, 7. Aufl,; Leipzig, Dörffling und Franke, 1881, S. 29.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/83&oldid=- (Version vom 31.7.2018)