Dr. Rohling[1] sagt, daß eine Talmudausgabe, die im Jahre 1600 zu Amsterdam erschien, noch die fraglichen Schmähungen auf Christus, Maria und die Apostel enthalte, daß jedoch in den späteren Ausgaben eine leere weiße Stelle oder ein Kreis den Ort verrate, wo dieselben früher zu lesen waren. Jedenfalls haben die Juden gut daran gethan, daß sie diese Ausgeburten sinnlosen Hasses, selbst wenn sie auch nach Rabbi Jechiel sich auf einen anderen Jesus bezogen, weggelassen haben, und sich außerdem noch Mühe geben, alles den Christen Anstößige aus dem Talmud zu entfernen, indem sie es auf eine Weise erklären, daß die Christen keinen Anstoß daran mehr nehmen können. Schon im Mittelalter hatte sich die Anschauung der Rabbiner vom Christentum zum Besseren gewendet, und viele Rabbiner sprachen sich bereits dahin aus, daß die Christen den Götzendienern nicht beizurechnen seien. Das ist wohl gegenwärtig auch die Meinung aller Juden, und damit ist vieles beseitigt, was die Christen verletzen könnte. Ja, man ist in der Gegenwart sogar schon so weit gekommen, daß man, wie J. B. Levinsohn thut, das Christentum als eine aus dem Talmud hervorgegangene Religionsgestaltung betrachtet. Und Emanuel Deutsch spricht sogar dem Christentum seinen Dank aus, indem er schreibt: „Es ist der Ruhm des Christentums, jene goldenen Keime, die in den Schulen und der stillen Gemeinde der Weisen sich bargen, auf den Markt der Menschheit gebracht zu haben. Es hat jenes Himmelreich, dessen der Talmud von der ersten bis zur letzten Seite voll ist, zum Gemeingut auch der Niedrigsten, der Hirten, ja der Aussätzigen gemacht.“[2] Wir führen diese Äußerungen natürlich bloß deshalb an, um zu zeigen, wie sich die Ansichten der Juden über das Christentum geändert haben, auf eine Beurteilung des Lobes, welches dem Christentum damit gespendet wird, verzichten wir.
Einen schweren Vorwurf hat man den Juden auch damit gemacht, daß man sagte, sie hielten ihre Rabbiner, und zwar jeden einzelnen derselben für unfehlbar, so daß die Aussprüche zweier Rabbiner auch dann wahr seien, wenn sie sich geradezu widersprechen. In einem solchen Falle sei es dann den Juden gestattet, nach Belieben das eine oder andere der sich widersprechenden Urteile anzunehmen und zu befolgen.
Für die Zeit, da der göttliche Heiland auf Erden wandelte und in Palästina lehrte, scheint das Volk der Juden diesen Glauben an die Unfehlbarkeit jedes einzelnen Rabbi noch nicht gehabt zu haben, denn in diesem Falle hätte der göttliche Heiland gewiß nicht ohne alle Einschränkung gesagt: „Was sie lehren, das thuet!“ Unter den Lehren, die auf dem Stuhle des Moses vorgetragen werden, sind jedenfalls solche gemeint, die mit der heiligen Schrift und den Überlieferungen übereinstimmen, solche, die von dem hohen Rate nicht beanstandet werden. Und ähnlich wird es, wie talmudkundige Christen und Juden behaupten, auch heute noch gehalten. Wenn bei widersprechenden Meinungen einzelner Rabbiner der Talmud nicht selbst sagt, welche Meinung die richtige und rechtsgültige ist, dann ist es Aufgabe der nachtalmudischen Lehrer, diejenige Meinung herauszufinden
Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/88&oldid=- (Version vom 31.7.2018)