Es giebt ein Volk, dem alle Völker der Erde zu großem Danke verpflichtet sind. Es ist jenes Volk, dem unter allen Kulturvölkern der Vergangenheit unbedingt der erste Platz gebührt, es ist das Volk der Juden.
Das Judenvolk hatte von dem Lenker der Welt- und Menschengeschichte die erhabene, ehrenvolle Bestimmung empfangen, die Kenntnis und Verehrung des Einen wahren Gottes in der Menschheit zu bewahren, sowie die Hoffnung auf den verheißenen Erlöser zu erhalten, der aus ihm selbst hervorgehen sollte. Gott hatte es unter allen Völkern der Erde zu diesem hohen Berufe auserwählt und mit ihm einen besonderen Bund geschlossen, weshalb es auch das Volk Gottes oder das auserwählte Volk des Herrn genannt wurde.
In der Fülle der Zeiten hat Gott seine Verheißung erfüllt, der versprochene Erlöser ist gekommen, der Sohn Gottes hat, um die Menschheit vom Fluche der Sünde zu erlösen, die menschliche Natur angenommen von einer reinen Jungfrau im Judenlande, und ist somit dem Fleische nach ein Sprößling des Judenvolkes. In dieser Thatsache liegt der Hauptgrund, warum alle Völker der Erde dem Judenvolke dankbar sein müssen. Die ganze Menschheit muß es dankbar anerkennen, daß aus dem Judenvolke der Heiland der Welt hervorgegangen ist. Auf diese Thatsache wollte auch der Erlöser selbst jenes samaritanische Weib hinweisen, mit dem er sich am Jakobsbrunnen unterhielt, indem er zu ihm sagte: „Das Heil kommt von den Juden.“ (Joan. 4, 22.)
Nachdem aber in unseliger Verblendung, in der Gier nach irdischen Gütern, Ehren und Freuden das Judenvolk den Sohn Gottes verworfen und den Heiland der Welt an den Schandpfahl des Kreuzes geschlagen hatte, da war es auch das Volk Gottes nicht mehr, ja, es
Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/9&oldid=- (Version vom 31.7.2018)