Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie im erkenntnistheoretischen Zusammenhange des relativistischen Positivismus, Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, 14. Jahrgang | |
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Die tägliche Drehung des Fixsternhimmels um die Erde ist also nicht „Schein“, sondern genau so wirklich wie die tägliche Drehung der Erde um ihre Achse, und keine von beiden ist absolute Wahrheit — durch die ja die andere ausgeschlossen wäre —, sondern jede ist relative Wahrheit, geltend für ein zugehöriges Bezugssystem.
5. Die bisherigen Darlegungen gewinnen eine starke Stütze in ganz allgemeinen Auffassungen. Wenn man nicht in metaphysische Willkürlichkeiten und Irrtümer verfallen will, muß man ganz allgemein den Gegensatz von Wirklichkeit und Sinnenschein aufheben: der Begriff der optischen Täuschung hat nur praktische Bedeutung; theoretisch, für die vorurteilslose, streng empirisch gerichtete Erkenntnis ist er wertlos und unhaltbar. Der schräg zur Oberfläche des Wassers eingetauchte Stab „ist“ geknickt, nicht: „scheint“ geknickt — in voller Wirklichkeit, aber natürlich nur für das Auge, nicht für die tastende Hand; ganz ähnlich wie der in die Bewegungsrichtung fallende Schenkel des Michelsonschen Apparates nur für den zurückbleibenden, nicht auch für den mitbewegten Beobachter verkürzt „ist“, nicht „scheint“. Alle unsere Aussagen, soweit sie haltbar sind, gelten jeweils nur für ein bestimmtes Bezugssystem; alle sind relativ, bedingt, konditional, keine absolut. Wo gibt es in der echten Wissenschaft auch nur eine einzige absolute Erkenntnis?
6. Dieser Verzicht auf absolute Wirklichkeit bedeutet zugleich Einsicht in die Unerläßlichkeit eines Standpunktes, eines Koordinatensystems. Können die Vorgänge aber immer nur von einem Standpunkte aus angeschaut und dargestellt werden, so heißt das: sie können nur „beschrieben“ werden; alle „Erklärung“ ist zuletzt nur „Beschreibung“ (Mach, Kirchhoff). Schon Mach hat den physikalischen Begriffen (Masse, Energie, Temperatur, Elektrizitätsmenge usw., aber auch schon Raum und Zeit) die Absolutheit genommen und sie zu Hilfsmitteln der Beschreibung gemacht[1]). Ein Teil dieser Auffassung hat ja in der Physik eine herrschende Stellung gewonnen und — mit wenig glücklicher Bezeichnung — zur „phänomenologischen“ Physik geführt. Die Einsteinsche Theorie ist ein Schritt weiter auf dem von Mach
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie im erkenntnistheoretischen Zusammenhange des relativistischen Positivismus, Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, 14. Jahrgang. , Braunschweig 1912, Seite 1058. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_(Petzoldt_1912).djvu/4&oldid=- (Version vom 12.6.2024)
- ↑ E. Mach, Erhaltung der Arbeit. Vortrag in der Böhm. Ges. d. Wiss. Nov. 1871. 2. Aufl. S. 32, 34 ff., 56f. Leipzig 1909.