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Verschiedene: Die zehnte Muse

Der Ungetreue.

Du sprichst, ich sei dir ungetreu,
Mein Engel, glaub’ es nicht,
Ich lieb’ dich ohne Heuchelei,
Bis mir das Herze bricht;

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Und wenn ich gleich zum Zeitvertreib

Bei einer andern stehen bleib’,
So glaub’, mein Engel, glaube mir:
Mich dünkt, ich steh’ bei dir.

Sprichst du, das wäre leidlich noch,

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Wenn’s nur nicht weiter käm’,

Allein, mein Kind, bedenke doch
Und dich nicht ferner gräm’;
Und wenn ich gleich zum Possenspiel
Ein ander Mädchen küssen will,

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So glaub’, mein Engel, glaube mir:

Mich dünkt, ich tät’ es dir.

Drum stelle nur dein Eifern ein,
Schlag’ alles aus dem Sinn,
Es kann dir nicht nachteilig sein,

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Dass ich nicht bei dir bin;

Und wenn es endlich so weit käm,
Dass sie mich mit zu Bette nähm’,
So glaub’, mein Engel’ glaube mir:
Mich dünkt, ich schlief bei dir.

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Mich dünkt, ich fühle deinen Schoss,

Wenn ich die Flamme kühl’,
Es giebt sich unsere Liebe bloss,
Wenn ich mit andern spiel;
Und wenn ich auch nach Jahreszeit

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Mit einem Kindchen werd’ erfreut,

So glaub’, mein Engel, glaube mir:
Mich dünkt, es wär’ von dir!

(Aus der Handschrift des Fräulein
von Crailsheim. 18. Jahrhundert.)





Der Kuss.

Das war ein Kuss: es freuten sich die Tannen,
Dass ihnen Thränen aus den Augen rannen.
Bald wusste es der ganze tiefe Wald:
So kräftig hat noch keiner je geschallt,

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Seitdem Verliebte in sein Reich gedrungen;
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Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/68&oldid=- (Version vom 31.7.2018)