Seite:Dillenius Weinsberg 273.png

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Ich Armer, halb erblindet,
saß jüngst dort auf bemoostem Stein;
da hat der Klang entzündet
im Innern mir den hellsten Schein.

Ja, Dank dem Traumgesichte,
so mir die äuß’re Nacht zerstreut!
In mir im hellsten Lichte
steht dieses Berges alte Zeit.

Da ragen hohe Thürme,
da steht ein langes Ritterhaus,
Ringmauern, fels’ge Schirme
die blicken stolz das Thal hinaus.

Da reiten kühne Ritter
durch’s Eisenthor im Kleid von Stahl;
doch aus Verließes Gitter
statt Harfenlaut – tönt Laut der Qual.

Und in der Burgkapelle
da kniet in tiefer Finsterniß
beraubt der Augenhelle
die fromme Gräfin Luitgardis. *)[1]

Sie spricht, und Thränen floßen:
„bekränzt hat heut mein Kind Dein Bild
mit Lilien und Rosen,
o Mutter Gottes, reich und mild!“

„Nur Einmal noch laß sehen
den Gatten mich, das süße Kind!
dann werd’ ich, soll’s geschehen
nach Gottes Rath, gern wieder blind.“

Lang fleht sie so in Nächten,
bis draußen auch erstirbt das Licht;
als plötzlich ihr zur Rechten
Maria strahlend steht und spricht:

„o Menschenleid! hast Gränzen!
Dir werde Mehr, als Du gefleht!
Blick auf und sieh erglänzen
den Stern, der licht gen Morgen steht!“

Das Fenster der Kapelle
aufwehet Paradiesesduft;
aufblickt die Gräfin helle
und sieht den Stern in blauer Luft;


  1. *) Luitgardis, geb. Gräfin von Limpurg, Gemahlin von Engelhard III., Freiherrn von Weinsberg 1193–1242. Urkundlich Stifterin des Klosters Lichtenstern. Ihre Blindheit ist nicht urkundlich, aber der Name des Klosters „Clara stella“ köstlich durch obige Dichtung motivirt. Ihre Schwester Burcksindis von Limpurg war erste Äbtissin des Klosters. Grabmal. S. oben Seite 21.