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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

82 212—217. Die Vocale: 1. Winteler’s Reihe uai.


212. Die Lippen ziehen sich bei dem möglichst voll gesprochenen u bis auf eine kleine kreisförmige Oeffnung zusammen und werden gleichzeitig, das Ansatzrohr verlängernd, etwas vorgeschoben; beim möglichst hellen © werden die Mundwinkel auseinander gezogen und es entsteht ein breiter Spalt an Stelle jener kreisrunden Oeffnung beim « (vgl. oben 42).

213. Beim u wird also im vordern Munde ein ziemlich grosser, kugelähnlicher Resonanzraum mit kleiner runder Ausflussöffnung hergestellt; beim Uebergang zum i wird das Volumen desselben auf ein Minimum reducirt und dabei zugleich die Ausflussöffnung möglichst vergrössert. Demgemäss werden beim u die tieferen Theiltöne des Stimmklangs verstärkt und die höheren gedämpft; beim © umgekehrt (vgl. dazu unten 234 ff.).

214. Hierauf beruht es, dass das u auch beim gewöhnlichen Sprechen tiefer klingt als das i, auch wenn die Stimmbänder beidemal dieselbe Schwingungszahl haben, und dass das u auf sehr hohen Tönen, das i umgekehrt auf sehr tiefen nicht mehr anspricht.

215. Ausser den beiden genannten Factoren zog man übrigens auch noch die Hebung des Kehlkopfs bei i und seine Senkung bei u in Betracht (Chladni 190f. u. ö.). Diese Bewegungen sind aber grossentheils nicht willkürlich, sondern wesentlich durch das Vorschieben bez. Zurückziehn der Zunge bedingt (so richtig Thausing S.15 gegen Brücke, der ein umgekehrtes Verhältniss annimmt). Man kann sie deshalb bei der Beobachtung ohne grossen Schaden ausser Acht lassen, weil sie unwillkürlich eintreten, wenn man die Zungenarticulation richtig ausführt.

216. Um nun aus der Menge der möglichen Variationen von u und i die beiden äussersten Grenzpunkte auswählen zu können, lehrte Winteler namentlich auf die Engenbildungen bei der Articulation dieser Laute zu achten. Beim u liegt die grösste Enge zwischen den Lippen, beim zwischen der Vorderzunge und dem harten Gaumen. Beide Engen können nach 194 auch schallbildend auftreten, und zwar um so leichter, je stärker der Grad der Verengung ist; damit wird aber die Existenz des Vocals, welcher doch ein reiner Stimmlaut sein soll, beeinträchtigt. Man erhält also nach Winteler die äussersten Grenzwerthe von u und i wenn man bei der eben beschriebenen Articulationsweise bis zu dem äussersten Grade von Verengung fortschreitet, welcher noch erlaubt, jene Vocale bei normalem Exspirationsdruck ohne Beimischung jener Geräusche hervorzubringen.

217. Schwieriger als die Bestimmung dieser äussersten u und i ist die der ‘neutralen Mitte’, des a, weil hier die sehr einfache Geräuschprobe in Wegfall kommen muss. Man geht

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/102&oldid=- (Version vom 25.5.2022)