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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

88 233. 234. Die Vocale: 1. Winteler's System. 2. Eigentonsystem.


Lippenrundung statt). Beim a hört natürlich der Unterschied der beiden Bildungen auf, da dieses stets ohne selbständige Lippenarticulation gebildet wird.

233. Man hatte seit Brücke (Grundzüge S. 23 ff.) diese ohne energische Lippenbetheiligung hervorgebrachten Vocale unvollkommene genannt, weil dabei ‘nicht alle Mittel in Gebrauch gezogen werden, welche die menschlichen Sprachwerkzeuge darbieten, um den Vocallaut deutlich unterscheidbar und klangvoll hervortreten zu lassen. Dieser Name ist bequem, aber Missdeutungen ausgesetzt, weil man unter unvollkommenen Vocalen auch oft die unter dem Einfluss der Accentlosigkeit nur mit mangelhafter Articulation gebildeten gemurmelten Vocale (279 ff.) versteht. Man würde deshalb auch von diesem Standpunkt besser thun, zunächst Vocale mit activer und passiver Lippenarticulation (vgl. 42) zu unterscheiden. Weiterhin würde man für jeden Einzelfall genau angeben müssen, ob Zungen- und Lippenstellung den angenommenen Normalstellungen dieser Organe entsprechen, oder ob und wie weit sie sich davon entfernen. Namentlich würde dabei auch auf die verschiedenen Stufen der Energie der Lippenbetheiligung (sewicht zu legen sein. Auch die Stellung der Vermittelungsvocale, welche Winteler’s Schema in die Mitte der beiden vermittelten Laute gestellt hat, würde noch jedesmal näher zu präcisiren sein, je nachdem die charakteristische Articulationsform des einen oder andern dieser Laute überwiegt.

2. Die Anordnung nach Eigentonreihen.

234. Das eben skizzirte Klangfarbensystem leidet — von einigen weiter unten zu erhebenden Einwänden abgesehen — an dem praktischen Uebelstande, dass es sehr schwer ist, die (sebiete der einzelnen Laute oder Klangfarben scharf von einander abzugrenzen. Schon die Bestimmung der Endpunkte der Linie ui bereitet Schwierigkeiten. Die Geräuschprobe liefert allenfalls einen brauchbaren Grenzwerth für das i, aber schon bei dem u lässt sie im Stich. Zwar kann man mit ihr den äussersten Grad der Lippenverengung beim u fesstellen, aber die Zunge hat dabei freien Spielraum, und ihre Stellung lässt sich demnach nicht ohne Weiteres fixiren. Ferner wird für die einzelnen Normalvocale gleicher Abstand von einander gefordert, aber es wird kein Mittel angegeben, das uns in den Stand setzte, die Bewegungen, die von einem Laute zum andern

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/108&oldid=- (Version vom 27.5.2022)