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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

8. 9. Stellung, Aufgabe und Methode der Phonetik. 5


Richtung ihrer Weiterentwicklung bestimmen, während das durch mündliche Schulung vorgebildete Ohr diese Dinge mit Leichtigkeit aufzufassen vermag. Am ehesten mag es noch gelingen, die allgemeinen naturwissenschaftlichen Grundgesetze der Sprachbildung theoretisch und doch allgemein verständlich vorzutragen. Je mehr aber die Phonetik den praktischen Zwecken des Sprachunterrichts oder der Sprachforschung dienstbar gemacht werden soll, um so mehr muss die eigene directe Beobachtung des Lernenden an die Stelle der Unterweisung durch den Lehrer treten. Ein für philologische Leser berechnetes Lehrbuch der Phonetik kann und darf daher im Wesentlichen nichts anderes sein, als eine Anleitung zur Beobachtung, welche dann ihrerseits dem Lernenden die feste Grundlage für die praktische Verwerthung der so gewonnenen phonetischen Sätze zu schaffen hat.

8. Verhältnissmässig einfach gestaltet sich in dieser Beziehung noch die Aufgabe des Sprachlehrers, dessen Beobachtungsfeld sich im Wesentlichen auf die Normalaussprache derjenigen Cultursprachen beschränken darf, auf welche sich sein Unterricht erstreckt. Der Sprachforscher dagegen darf an eine solche Beschränkung nicht denken. Je mannigfaltiger die lautgeschichtlichen Probleme sind, an deren Lösung er arbeitet, um so umfassender und sicherer muss auch sein Ueberblick über die sprachlichen Entwicklungszustände lebender Idiome sein, wenn er sich nicht fort und fort der Gefahr aussetzen will, zu einem falschen Erklärungsmittel zu greifen.

9. Vorallem muss der Sprachforscher, der aus phonetischen Studien ernstlichen Gewinn für seine Wissenschaft zu erarbeiten strebt, sich von vorn herein von einer Masse von Vorurtheilen zu befreien suchen, zu denen theils die Schule, theils die praktische Uebung des Lebens hintreibt, und von denen gerade gelehrte Kreise am allerwenigsten frei sind. In erster Linie steht unter diesen Vorurtheilen die Meinung, dass allein in den Schrift- oder Cultursprachen das sprachlich Normale und Natürliche geboten werde. Die nothwendige Voraussetzung dieser Lehre, die Einheitlichkeit der Sprachen, besteht ja überall nur auf dem Papier: und so müssen, wenn der Einzelne nach alter Unsitte den Lautzeichen der Schrift willkürlich seine individuelle Aussprache unterlegt und diese zur einzigen Grundlage seiner Beurtheilung fremder Sprachen macht, schliesslich eine unzählbare Masse von Standpunkten in unlöslichen Conflict gerathen. Und bestünde nun auch wirklich in

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/25&oldid=- (Version vom 23.5.2022)