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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

12. 13. Stellung, Aufgabe und Methode der Phonetik. 7


deren Veränderungen gelöst werden können. Denn im Allgemeinen ist es nicht der einzelne Laut, welcher nach gewissen, überall gültigen Gesetzen der Veränderung unterliegt, sondern es findet gewöhnlich eine correspondirende Entwicklung correspondirender Lautreihen in correspondirender Stellung statt (vgl. z. B. die gleichmässige Verschiebung der Tenues-, Medien- und Aspiratenreihen in der germanischen Lautverschiebung, oder die Umsetzungen ganzer Vocalsysteme durch Steigerung oder Minderung der specifischen Articulation der Vocale u. dgl.); ja in der Regel werden sich auch noch besondere Gesichtspunkte auffinden lassen, welche die Veränderung einer solchen Lautreihe aus dem Gesammthabitus des Systems und der besonderen Stellung jener Reihe in ihm erklären helfen.

12. Vor allen Dingen suche man sich also einen genauen Einblick in den Bau jedes zu behandelnden Lautsystems zu verschaffen. Man wird gut thun, dabei stets im Auge zu behalten, dass dieser nicht so sehr durch die Anzahl der zufällig in ihm zusammengewürfelten Laute an und für sich, als durch das Verhältniss dieser einzelnen Glieder unter einander bedingt wird, und dass nicht der akustische Eindruck eines Lautes das Wesentliche bei der Sache ist, sondern die Art, wie er gebildet wird. Denn das was wir Lautwandel nennen, ist ja erst eine secundäre Folge der Veränderungen eines oder mehrerer derjenigen Bildungsfactoren, durch deren Zusammenwirken ein Laut erzeugt wird.

13. Die Erwerbung einer derartigen phonetischen Vorbildung ist, wie hier von vorn herein betont werden soll, keine leichte Sache. Sie erfordert eine unermüdliche, ausdauernde Schulung der Sprachorgane und, namentlich mit Beziehung auf den zuletzt angeführten Satz, des Gehörs. Denn einerseits pflegt das Ohr für ihm fremdartige Laute oder deren Unterschied von den ihm geläufigen stets bis zu einem gewissen Grade taub zu sein, oder wo wirklich ein Unterschied wahrgenommen wird, pflegen wir oft Mitteldinge zwischen den fremden und den eigenen Lauten zu hören, die nur dadurch entstehen, dass die Vorstellung der eigenen Laute mit der der entsprechenden gehörten fremden Laute zusammenschmilzt. Andererseits laufen wir bei der nun einmal erworbenen Unempfindlichkeit des Gehörs für kleinere Verschiedenheiten im Klange der Laute oft Gefahr, fremden Lauten, die man nur mit dem Gehör erfassen kann, solche Articulationen zuzuschreiben,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/27&oldid=- (Version vom 23.5.2022)