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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

56 142—144. Die Articulationsstellen des Ansatzrohrs.


142. Die Bestimmung der Articulationsstelle eines Lautes gelingt um so leichter, je prägnanter ausgeführt die Einengung des Mundcanals (bis zum völligen Verschluss) ist. Daher bieten die Laute, welche durch Articulation der mittleren Zungenpartien gegen den Gaumen gebildet werden, viel erheblichere Schwierigkeiten für die Bestimmung dar, als die anderen Laute, zumal man meist auf Tastversuche angewiesen ist. Am schwierigsten sind im Allgemeinen die Articulationen der Vocale zu fixiren, weil bei diesen am wenigsten prägnante Verengungen des Mundcanals auftreten. Es soll daher ihre Beschreibung bis zu dem die Einzelvocale behandelnden Abschnitt aufgehoben und hier nur von den schärfer hervortretenden Articulationsstellen der übrigen Laute gehandelt werden.

143. Einen sehr wesentlichen Fortschritt in der genaueren Bestimmung der Articulationsstellen bezeichnet die sehr sinnreiche Färbungsmethode von Oakley-Coles und Grützner (S. 204 u.ö., vgl. auch Techmer S. 30), die dann später durch Kingsley durch die Einführung des künstlichen Gaumens (s. u.) vervollkommnet wurde. Grützner bestreicht die trocken abgewischte Zunge dick mit Carmin- oder chinesischer Tusche, und articulirt dann möglichst deutlich und zwanglos die Laute. Hierauf wird der Mund geöffnet gehalten und bei passendem Licht mit einem grossen Kehlkopfspiegel, der schräg oben nach dem Gaumen sieht, und einem gewöhnlichen Toilettenspiegel betrachtet. Kingsley führt statt dessen einen künstlichen Gaumen in den Mund ein, d.h. eine dünne genau nach dem Gaumen des einzelnen Individuums gearbeitete Platte, auf welcher sich die Contactflächen der Zunge markiren, die dann nach Herausnahme der Platte direct abgelesen werden können. Abbildungen des l, Zungen-r, s, š gibt Grützner S. 204. 207. 219. 221; anderes bei Techmer, Atlas tab. IV, R. Lenz, Zs. f. vergl. Sprachf. 29, 1 ff., N. W. Kingsley in Techmer’s Zs. 3, 225 ff. und sonst.

144. Es fragt sich hier zuerst, wie viele solcher Articulationsstellen wir anzunehmen haben, und wie dieselben zu einander liegen.

Im Anschluss an die Lautsysteme des Griechischen und Lateinischen pflegte man sonst nur drei verschiedene Articulationsstellen anzunehmen, deren Producte als gutturale, dentale und labiale Laute bezeichnet wurden. Nach der Kenntnissnahme vom Sanskrit fügte man hierzu noch die sog. palatalen und cerebralen Laute, die man nach dem indischen Liautsystem zwischen Gutturalen und Dentalen einschob. Das so entstehende System ist indessen physiologisch nicht ohne Weiteres verwendbar. Die Rücksicht auf die bei der Bildung der einzelnen Laute betheiligten Organe wie auf die Lautgeschichte fordert vielmehr, wie Winteler gezeigt hat,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/76&oldid=- (Version vom 23.5.2022)