Seite:Ein verlorener Posten 210.jpg

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als Wolfgang Hammer? Sie hatte nie eine Zeile von ihm gesehen, aber so mußte er, so konnte nur er schreiben.

Es überfiel sie ein Zittern. So nahe der Entscheidung, fehlte ihr plötzlich der Mut, sich Gewißheit zu schaffen; sie sank mit dem Briefe, den ihre Hände so fest umschlossen, als müßte sie ihn gegen die ganze Welt verteidigen, in einen Stuhl; ihr Atem flog, und lange, lange betrachtete sie das Siegel; es zeigte einen auffliegenden Falken und unter ihm die vieldeutigen Worte: „Nevermore! Nevermind! Neverthless“! (Niemals! Achte es nicht! Trotz alledem!) Endlich zog sie eine Nadel aus dem reichen, schwarzen Haar, das von neidischen Jugendfreundinnen oft genug bewundert worden war, und öffnete, ohne das Siegel zu verletzten, vorsichtig das Couvert. Der Kommerzienrat hatte das Dekret über die Verleihung des roten Adlers nicht mit halb der ehrerbietigen Scheu auseinandergefaltet, mit der sie den Brief auseinanderschlug; wieviel hatte ihr Wolfgang zu sagen, wie lieb mußte sie ihm sein! Sie warf einen forschenden Blick in das Heftchen und als sie sah, daß es ihr ausschließlich Verse brachte, preßte sie es, überwältigt von nicht zu fassendem Glück, samt dem Briefe an ihre Brust, und dann rückte eine zitternde Hand den silbernen Leuchter mit der brennenden Kerze näher heran, und ihre verschleierten Augen versuchten, den Inhalt des Briefes zu entziffern. Aber im nächsten Augenblick schon zuckte sie zusammen und schlug die Hände vor's Gesicht. Er war fort? Und wie sollte sie das folgende verstehen? Wäre die Adresse nicht gewesen, sie hätte nicht geglaubt, daß der Brief an sie gerichtet sein könne; das alles war ja unverständlich, geheimnisvoll, unbegreiflich. Sie las und las, ganze halbe Seiten mit einem Blick umfassend, und als sie geendet, als sie wußte, wie glücklich sie hätte sein können und wie elend sie war, daß er sie geliebt hatte und daß sie beide das Opfer eines unseligen Mißverständnisses oder einer nicht auszudenkenden Intrigue wurden, da brach sie in konvulsivisches Schluchzen und in heftige, unstillbare Thränen aus. Ihr Gesicht sank auf die grausamen, beseligenden Blätter, und als sie — es war wohl zu gleicher Zeit, als Wolfgang den Preußischen Adler verließ — es wieder erhob, da war die zierliche Schrift von ihren Thränen verwischt und verwüstet, als wäre ein warmer Regen auf sie gefallen. Sie stützte den Kopf in die Hand und versuchte, Ordnung in das Chaos der sie bestürmenden Gedanken zu bringen, sie las wieder und wieder und mit unheimlicher Schnelligkeit verdrängte eine Hypothese die andere. Aber es war alles umsonst; sie war so betäubt, daß sie nur das Eine klar erkannte: er liebt mich, aber er verwirft mich; ich habe seine Achtung verloren, aber er hat mich geliebt. Er ist fort und ich werde ihn nie wiedersehen; er ist mir verloren und ich bin doch unschuldig. Sie glaubte sterben zu müssen und doch sang und klang es vor ihren Ohren: „Er liebt mich! Er glaubt sich aufs tödlichste beleidigt, und doch schreibt er so sanft und mild und gut, doch ist sein letztes Wort Verzeihung!“ Gaben ihr vielleicht die Verse Aufschluß? Sie griff nach ihnen, und wie sie las, traten ihr immer wieder die Thränen in die Augen, immer wieder zuckten die Lippen, und immer wieder mußte sie das liebe,

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_210.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)