Seite:Eine Bergfahrt in Süd-Tirol 35 03.jpg

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gruppe gewissermaßen entdeckte und die überhaupt erste Besteigung des Corno bianco und des Adamello ausführte. Man hat das Reich des Schnees und des Eises, des Todes und des Schweigens betreten, wenn man diese, in weichen, breiten, schön geschwungenen Wellen verlaufenden, grenzenlosen Schneefelder überschreitet; aus dem blendenden Schnee ragen die nackten, schwarzen Feldspitzen unvermittelt und trotzig empor und werfen Schatten von unheimlicher, weil nie gesehener Tiefe und Schärfe. Es ist eine dem kecken menschlichen Fuße sich feindlich verschließende Welt, deren Grenzen man überschritten hat und in der man wie von einem Taumel ergriffen vordringt. Selbst der Schall der menschlichen Rede wird in der dünnen Luft zum tonlosen Geflüster, als nehme sie eine Geisterhand uns unwillig vom Munde weg. Ich glaube gern, daß Viele von Schwindel, Kopfschmerz, Uebelkeit und Apathie, also von der Bergkrankheit in ihrer reinsten Form, befallen werden. Davon haben wir allerdings nichts zu erzählen; frisch und leicht schritten wir dahin, die Stadtlungen atmeten mit Entzücken die reine, herbe Luft, und daß die Gesichtsfarbe nach und nach in Rothbraun und Mahagoni überging, infolge des grellen Reflexes des Sonnenlichtes auf den blendenden Schneefeldern, belustigte uns nur; was schadete es, wenn die Haut barst und das Gesicht sich schälte, trotzdem wir uns Hals, Gesicht und Hände mit Vaseline eingerieben hatten? Sich einen Schneesturm in diesen Regionen vorzustellen, macht nervös. Giacinto erzählte uns, daß einige Wochen vorher ein Regen- und Schneesturm losbrach, als er vom Corno bianco der Hütte zustrebte, und daß derselbe einen „Adler“ (wohl einen Falken) erfaßte und ihn wie einen Fetzen auf das Schneefeld zu unserer Rechten warf. Da lag er noch mit ausgebreiteten Schwingen, erstickt, mit gebrochenem Nacken, todt.

Vielleicht wartete ein ähnliches Schicksal der beiden Falken, die wir lange als schwarze Punkte auf dem weißen Schneefelde beobachten konnten, die uns nahe genug herankommen ließen, um als das erkannt werden zu können, was sie waren, und die dann dem Corno bianco zuflogen, hinter dessen untersten Zackenvorsprüngen ihre spähenden Köpfe noch oft zum Vorschein kamen, als wir auf den vereisten Felsen am Fuße des Berges unser Frühstück hielten. Als wir die Stelle erreichten, von der die beiden Räuber aufgeflogen waren, fanden wir im Schnee eine Anzahl Federn, die kleinen Krallenfüßchen und das Köpfchen eines Rothschwänzchens, jedenfalls desselben, das am Abend vorher noch so sorglos die Oede um die Hütte mit den silbernen Noten seines bescheidenen Gesanges erfüllte, dessen Gezwitscher uns wie ein letzter Gruß aus der warmen, wohnlichen Welt da unten angemuthet hatte. Ich steckte den kleinen Kopf mit den geschlossenen Augen und der zerzausten, röthlichen Kehle in's flache Trinkglas, das ich in der Brusttasche der Joppe trug, mein Freund nahm die Füßchen mit, die wir vor wenigen Stunden noch so hurtig über die Steine trippeln sahen.

Die Nothwendigkeit der Rast am Corno bianco leuchtete uns selber ein, denn der Adamello war noch immer nicht sichtbar und von seinem Fuße aus begann erst die eigentliche Arbeit. Payer, damals österreichischer Mappirungsoffizier in Venedig, hat seiner Zeit den Corno bianco für den Adamello genommen und sein Führer Botteri war, als sie die Spitze erstiegen hatten, sehr stolz darauf, die „bestia brutta“ (also ungefähr „das Unthier“) bezwungen zu haben; er wurde sehr kleinlaut, als ihm Payer den wirklichen Adamello, dessen weißes Horn dort oben sichtbar war, zeigte und ihn über den Irrthum aufklärte, und er ist denn auch hübsch unten geblieben, als an der Wand des wirklichen Adamello das Stufenschlagen begann.

Und das war der berühmteste Gämsenjäger des Thals, der einzige Mensch, der in diesem Winkel einigermaßen Bescheid wußte!

Daß unser Sitz nicht zum längeren Verweilen einlud, wird man mir glauben; wir brachen bald wieder auf und drangen auf's Neue in die arktische Schnee- und Felswüste vor. Das fortgesetzte Wandern in diesem verzauberten Reiche ermüdet die Augen, die Maßstäbe gehen verloren und alle Färbungen erhalten etwas Fremdartiges und Unheimliches. So glaubten wir lange Zeit, auch zu unserer Linken dehne sich ein tiefes Schneefeld in's Unendliche aus, bis wir erkannten, daß wir weiße Wolkenmassen unter uns hatten, und daß die schwarzen Bergpyramiden nicht aus einer Schneewüste, sondern aus einem Wolkenmeer emporragten.

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_35_03.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)