Seite:Eine Bergfahrt in Süd-Tirol 36 01.jpg

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Endlich stand es vor uns in scheinbar unnahbarer Majestät, das herrliche Horn des Adamello. Wir machten unwillkürlich Halt, und die Blicke hingen bewundernd an der stolzen Form dieses Hochgipfels, aber zugleich maßen wir unschlüssig die Steile vor uns, und ganz im Stillen regte sich die Frage: „Wird’s gehen? Werden wir hinaufkommen?“ Ich war schon etwas zuversichtlicher, denn zwei Jahre vorher hatte ich den Sass Nigais, die höchste der Geißlerspitzen, erstiegen, von dem ich am Abend vorher noch ehrlich überzeugt gewesen war, man müsse ein Vogel sein, um je den Fuß auf seine zerrissenen Zinnen und Zacken setzen zu können. Die Kletterei war nicht einmal so schlimm gewesen, und nur beim Abstieg war ich mit meinem Führer auf den Geröllfeldern in's Rutschen gerathen; er hatte mich nicht am Seil erhalten können, und so waren wir Beide wider Willen abgefahren und erst auf einem kleinen Grasfleck zum Sitzen gekommen, ohne indeß weiteren Schaden davon zu tragen, als zerscheuerte Hosenböden, die uns zwangen, unseren Einzug in Sankt Ulrich auf die späte Abendstunde zu verlegen. Mein Freund dagegen, ein Neuling in den Hochalpen, konnte sich eines gewissen Grauens nicht erwehren, und ich glaube, wenn er sich nicht geschämt hätte, wäre ihm das glorreiche Beispiel Botteri's nachahmenswerth erschienen. Man hat dabei immer zu berücksichtigen, daß auch Payer's zweiter Führer, der bei der ersten Ersteigung nicht zurückblieb, nur mit Zittern und Zagen folgte und das bezeichnende Glaubensbekenntniß ablegte: „Ob ich heute oder morgen sterbe, ist mir gleich!“ Auf Tod und Leben schien’s ihm also zu gehen, und da durfte das Unternehmen dem unerfahrenen Flachländer trotz aller Beherztheit wohl etwas bedenklich vorkommen.

Der Berg fällt nach Norden in unnahbaren Steilwänden in furchtbare Tiefe ab, und mächtige Schneewächten überhingen hier die Felsrippe, welche die Nord- von der Ostseite trennt. Nach Süden erstreckt sich ein ziemlich sanfter Rücken; von Westen soll die Besteigung am leichtesten sein, doch müßte man zu diesem Zwecke den langen Rücken erst umgehen, und das wäre viel zu zeitraubend gewesen; auch der Anstieg von Süden würde sehr langwierig und ermüdend gewesen sein, da der Schnee zu fest war, als daß man Stufen hätte treten können, und das Stufenschlagen ist ein saures Stück Arbeit. Es blieb uns also nur die Ostwand, und diese erhob sich unter einem Neigungswinkel von 45 Grad vor uns, recht eigentlich wie ein Zuckerhut. Und wie Fliegen, die an einem schönen, schneeweißen Zuckerhut langsam emporkriechen, wären wir Vier wohl einem fernen Beobachter erschienen. Das Bild ist so uneben nicht: an Stelle der wunderbar organisierten Fliegenfüßchen, die das Emporlaufen an einer Spiegelscheibe gestatten, trat bei uns der mit Steigeisen ausgerüstete Fuß, der mit seinen spitzen Zacken fest in den Firnschnee greift. Meinem Freunde kam die Sache nicht geheuer vor; am meisten störten ihn die tückischen Wächten, welche rechts von uns überhingen und neben denen wir emporstiegen. Man hatte kein Urteil darüber, wo der feste Untergrund aufhörte und die im Leeren hängende Wächte begann, und brach sie unter uns ab oder brachen wir durch sie durch, so - brauchten die Geier und Adler ihren Appetit nicht an armseligen Rothschwänzchen zu stillen, die auf dem Zuge gen Süden in die Bergeinsamkeit geriethen. Aber Giacinto arbeitete ruhig und sicher, hieb mit dem Pickel Stufe auf Stufe in den vereisten Schnee, und wenn er in die fertig gewordene trat, setzte ich den Fuß in die eben von

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Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_36_01.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)