Seite:Erläuterungen zu den ersten neun Büchern der Dänischen Geschichte des Saxo Grammaticus 294.jpg

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284 Sechstes Buch.


 6.

15
Ich nun, der ich mit Kämpfen erschüttert den Umkreis der Länder,

Soll ich verscheiden in schmerzlosem Tod? soll ich ruhigen Endes
Fahren dahin und der Krankheit Gewalt ohne Wunde erliegen[1]?


  1. Mit den Worten: „Jetzt erst verdienst Du zu heissen zu Dänemark Herr und zu Lethra“ (21429) schliesst offenbar das Lied von Starkather und Ingell: sie führen zusammenfassend das Ergebniss von Ingells Erwachen aus dem stumpfen Hinbrüten vor und weisen sehr treffend auf den Anfang des in Hexametern abgefassten Schlussteil des Liedes (denn es ist nicht unbedingt nötig, mit Müllenhoff und Müller zwei oder drei Lieder anzunehmen) zurück, in welchem Starkather den Ingell mit Heilszuruf als König begrüsst, nachdem dieser die ersten Streiche zur Ausübung der Blutrache geführt hat. Man darf nur nicht, wie Elton thut, vale als Abschiedsruf fassen; das wäre ein eigentümlicher Abschied, hinter welchem Starkather zur Erschlagung der noch übrigen auffordert und selbst daran teilnimmt, dann die Fortschaffung der Leichen anordnet, einen Rat und einen Rückblick giebt und zuletzt noch einmal das Facit des ganzen Vorganges zieht. Die oben angeführten Worte bildeten ursprünglich auch den Schluss des 6. Buches: In markigen Worten wird noch einmal das nunc mit seinem melius dem tempus lapsum gegenüber gestellt und dem Leser der grosse Unterschied zwischen dem Schlemmer Ingell und dem König Ingell, damit auch das Verdienst Starkathers ins Gedächtnis gerufen; das, worauf das Lied in langer Vorbereitung den spannenden Hörer hingewiesen, ist erfüllt, was soll nun noch folgen? Jede weitere Zuthat konnte nur die Wirkung der packenden Schlussverse abschwächen. Jetzt finden sich allerdings noch 28 Hexameter, die scheinbar in einem, wenn auch losen Zusammenhange stehen; sieht man aber genauer zu, so ist es eine Reihe von abgerissenen Bruchstücken (6), die in der Übersetzung durch den Druck auseinander gehalten sind, damit ihre wahre Natur besser hervortritt. Sie haben allerdings etwas Gemeinsames, nämlich dass alle sich auf die Starkathersage beziehen, aber auch, dass sie alle am unrechten Platze stehen. Woher kommen sie und wie kommen sie hierher? Der Sachverhalt ist vermutlich (denn über Vermutungen kommt man nicht hinaus) folgender:

         Saxo hatte ursprünglich die Absicht, auch dieses Lied von Starkather, wie die andern, das Helgalied und das Todeslied, in Hexametern zu behandeln, wie er auch für das grosse Lied vom Ende des Hrólfr Kraki dieses Versmass gewählt hat, und hatte bereits Stücke davon bearbeitet, als ihm zum Bewusstsein kam, dass für einen grossen Teil des Inhalts der Hexameter doch nicht der geeignete Vers ist. Er sah sich daher um, wie wohl andere eine solche Klage über die Schlechtigkeit der Menschen gegeben und kam auf den auch sonst von ihm benutzten Prudentius, bei dem einige Stellen in cath. VIII an das Thema anklingen; dieses Gedicht [285] aber ist in der sapphischen Strophe abgefasst; wenn er Horatius einsah, boten ihm allerdings wohl Oden in anderen Versmassen mehr Verwandtes, immerhin fand er aber doch auch einiges in der in demselben Metrum abgefassten Ode II, 16, und gerade aus dieser stammt das nicht ganz richtige Citat tenui salino (21010). (Aus Horatius stammen vielleicht auch manche Worte dieses Gedichtes, wie: albicare, amphora, cantharus, conchylia, cyathus, cutis cura, diota, rapulum u. a. m., vielleicht hat auch I, 22 Anregung gegeben zu 21119–26). Saxo dichtete also das Lied um in der sapphischen Strophe, vielleicht auch, wie in den stilistischen Untersuchungen besprochen werden wird, um in der Verskunst über Martianus Capella hinauszugehen; nur für den Schluss behielt er den Hexameter bei in dem ganz richtigen Gefühle, dass für diesen Teil, den Höhepunkt des Liedes, der feierliche Ton geeigneter sei; von den Strophen schied er die Hexameter durch eine Darstellung in Prosa, eine Darstellung des Sinneswechsels, der in Ingell vor sich geht, nicht zum Vorteile der Sache; an Stelle seiner gewundenen Reflexionen sähe man lieber eine packende scenische Vorführung des Inhaltes von 21314–20; die Zeilen 21–35 sind überflüssig, die letzten der Seite mit ihrem „quo peracto“ sind geradezu störend. Von den Bruchstücken gehören nun drei der ersten Bearbeitung des Liedes an, und zwar entspricht das 1. den Versen 20921–32, 2095–8 und 20831–34, das 4. zum Teil den Versen 20524–27, das 5. zum Teil wörtlich, der Strophe 20917–20. Die übrigen sind „Studien“ zu andern Starkather-Liedern, nämlich das 2. sollte vielleicht ursprünglich eine Stelle erhalten hinter 27127 und einen Gegensatz dazu bilden, dass die Helden der alten Zeit zu Fuss kämpften, erinnert aber auch, mit Ausnahme des Renners, an das Helga-Lied 1926–8; das 3. gehört als „Studie“ zu einem St.-Liede, das Saxo schliesslich in Prosa gegeben hat, nämlich von dem Kampfe für Helgo und Helga mit den neun Brüdern und ist gedacht als Schilderung des Büttels 19729–38; in dieser Beleuchtung erscheint auch das discere der ersten Ausgabe ganz berechtigt, nämlich in der Bedeutung „etwas zu erlauschen fürs Gericht“, entsprechend den Worten der Prosa 19737: ut omnium actus insidiosae explorationis arte cognoscat; auch sonst stimmt das Bruchstück mit der Prosa überein, nur Vers 7 will sich nicht recht fügen. Das 6. Bruchstück gehört offenbar dem Todesliede als anderer, bei Seite gelegter, Versuch an: der erste Vers entspricht ungefähr 2734–7, die beiden andern gehören in die Reihe von 27318–27, alle drei sind auch in der prosaischen Einleitung zu dem Liede 26824–28 verwendet. Wie kommen nun diese Verse hierher? Dass Saxo sie nicht dahin gesetzt hat, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung; es genügt der Hinweis, dass er weder diese zum Teil nichts Neues, zum Teil Ungehöriges bietenden Verse für notwendig gehalten haben kann, noch sich den schönen Abschluss durch 21428/29 hat verderben können. Das Vorhandensein dieser Verse, die jetzt für uns sehr interessant sind, weil sie uns einen Einblick mehr [286] in die Arbeitsart Saxos möglich machen, lässt sich vielleicht so erklären: Irgend jemand, der den Nachlass des Saxo in die Hand bekam, fand, dass diese Bruchstücke alle in einem Zusammenhange mit der Starkathersage standen; sie gefielen ihm, und er wollte sie nicht umkommen lassen; deshalb ordnete er sie zunächst so, dass er einigermassen einen Zusammenhang zu gewinnen glaubte, nachdem er das längste und beste an die Spitze gestellt hatte. Wenn dieses geschehen, konnte er sich einbilden, dass sie alle eine Ergänzung zu dem Ingell-Liede bildeten und fand dann allerdings für sie keinen andern Platz wie am Ende des Liedes und des sechsten Buches. Einen Schluss erhielt er auch; während aber der echte Schluss in Siegesjubel ausklingt, können die Verse, die er ans Ende gesetzt hat, an dieser ihnen durchaus nicht zukommenden Stelle nur den Eindruck einer unpassenden Sentimentalität machen.
Empfohlene Zitierweise:
Saxo Grammaticus: Erläuterungen zu den ersten neun Büchern der Dänischen Geschichte des Saxo Grammaticus. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann, 1901, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Erl%C3%A4uterungen_zu_den_ersten_neun_B%C3%BCchern_der_D%C3%A4nischen_Geschichte_des_Saxo_Grammaticus_294.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)