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„Und die ihrer eigenen kleinen Individualität.“

„Individualität? Ich denke, daß sie noch keine hat. Zu drei Jahren sind alle Kinder einander gleich.“

„Nicht zwei“, sprach die Gräfin bestimmt, „auf der ganzen Erde nicht zwei!“

„Wahrhaftig?“ versetzte er zerstreut. Sein Auge verfolgte mit dem Ausdruck eifersüchtigen Entzückens die schöne Thekla, die jetzt in den Armen ihres Tänzers an ihm vorüber wirbelte.

Marianne verglich die heiße Leidenschaft, die aus seinen Blicken funkelte, mit der Kälte, die sie angefröstelt hatte, als er von seinen Eltern, seinem Kinde sprach, und dachte: – Was für eine Art Mensch bist Du eigentlich? Es liegt Etwas Unfertiges, Unaufgeschlossenes in Dir. – Ah! tröstete sie sich, er hat zu viel in Büchern gesteckt; er kennt das Leben nicht. Die Schule und ein einsames Schloß auf dem Lande, das war bisher seine ganze Welt. Er steht zum ersten Male im Menschengewühl und mit all’ seiner Weisheit ist er doch nur ein Neuling darin. Aber – wo hat er Wurzeln geschlagen? Was ist sein eigentliches Element? Die Familie nicht, er scheint sehr gleichgültig gegen Alle, die ihm angehören. Wahrlich, ein Mann, der Mariannen auf dem Balle von den Süßigkeiten des Familienlebens vorgesäuselt hätte, wäre ihr lächerlich vorgekommen; aber so trocken wie dieser Sonnberg es that, sollte Niemand diejenigen abfertigen, die ihn an die Seinen erinnern.

Die Gräfin sah ihn von der Seite an: – Verwöhnt

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Marie von Ebner-Eschenbach: Nach dem Tode. In: Erzählungen. Berlin: Gebrüder Paetel, 1893, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Erz%C3%A4hlungen_von_Marie_von_Ebner-Eschenbach.djvu/320&oldid=- (Version vom 31.7.2018)