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möglichst vorsichtig nach rückwärts. Sie vergisst nicht mehr, dass zwischen dem heidentum und unserer protestantischen aufklärung das phantasiereiche katholische mittelalter liegt. Dass aus dieser zeit der grösste teil der uns erhaltenen finnischen volkspoesie stammt, ist nicht schwer zu erkennen, wenn man die sache nur ohne die gewohnte brille betrachten will. Über das verhältnis der altklassischen sagen und der katholischen volksüberlieferungen zueinander hat sich die anschauung auf uns vererbt, dass die heidnische tradition immer die ursprünglichere und die christliche späteres beiwerk sei. Aber die neuere untersuchung der nordischen mythen, sowohl der Edda- als der Kalevalalieder hat es gewagt das verhältnis umzukehren, indem sie zeigt, wie sich die christlichen legenden in halbheidnischer zeit mit namen alter götter oder anderen uralt anmutenden poetischen masken ausgeschmückt haben. Das christentum, das später den grund zur literarischen kultur des finnischen volkes legte, hat das volkslied schon vorher mit seinen gedanken befruchtet. Das geistige leben Finlands im mittelalter, über das uns bisher nur ausserordentlich spärliche und dunkle nachrichten zur verfügung gestanden haben, breitet sich in dem durch die folkloristische forschung geklärten spiegel mit deutlichen linien vor unseren augen aus. Ja auch über diese zeit hinaus hat die kritische forschung erfolgreich vorzudringen vermocht. Durch genaue aussonderung der späteren schichten ist es ihr gelungen auch ungeahnte heidnische überlieferungen blosszulegen. Mit einem wort: in dem erhaltenen material unserer volkspoesie können wir mit hilfe der richtigen methode die geschichte der nationalen entwicklung lesen.

Die finnische folkloristische methode ist sowohl nach ihrem material als nach ihrem ausgangspunkt und ihren ergebnissen eine unserer nationalsten wissenschaften. Aber indem sie ihre vergleichungen auf die kollektiven geistesprodukte aller völker der welt ausdehnt und das sammeln und bearbeiten des materials in den einzelnen ländern verfolgt, bildet sie sich zu einer internationalen wissenschaft aus, die über die alten, unter der oberfläche hinziehenden kulturströmungen und geistigen berührungen licht verbreitet. Das letzte ziel der forschung: die ermittlung der geistigen gesetze, die in den urkonzeptionen der volkspoesie zum ausdruck kommen und in den

Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann (Hrsg.): Finnisch-ugrische Forschungen, Band 10. Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz, Helsingfors; Leipzig 1910, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Finnisch-ugrische_Forschungen_10_042.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)