wir würden an Starrheit und Unbeweglichkeit den vollendetsten Antiken Ehre gemacht haben – aber wie uns am andern Morgen aufthauen? Da half mir mein Brennglas. Mit den ersten Strahlen der Morgenröthe erhob ich mich von meinem Lager.
„Sie waren ja aber eingefroren, Herr Beutel!“ bemerkte hierbei einer der Anwesenden.
„A posteriori wohl, aber nicht a priori,“ sagte hierauf der unerschütterliche Beutel –„oder vielmehr nur von hinten, nicht von vorn, gleichsam nur in der Realität, aber nicht in der Idee. Mein philosophisches Bewußtsein ließ mich nicht zum gänzlichen Erfrieren kommen. Ohnehin war ich so vorsichtig, vor Schlafengehen ein paar Tropfen Gubener Landwein zu mir zu nehmen, und dieser Landwein ist bekanntlich so hitziger Natur, daß er auch dem äußersten Kältegrad Widerstand leistet. Es blieb also immer ein Fleckchen in meinem Gehirne übrig, welches nicht einfror. Zudem hatte ich das besagte Brennglas so an meinem Lager angebracht, daß die ersten Strahlen der Morgensonne auf meine erstarrten Glieder concentrirt wurden und mein gefrorenes Blut aufthauten. Mit selbigem Brennglas thaute ich auch die übrige Schiffsmannschaft auf, den Kapitän, den Steuermann, den Hochbootsmann, den Koch, die Matrosen, Einen nach dem Andern. Ich muß noch bemerken, daß in diesen hohen Breitegraden das Erfrieren der eigentliche normale Zustand ist, und wunderbar belebend und erquickend auf die Nerven wirkt.
Endlich wurde ich dieses ewigen zwecklosen Erfrierens und Aufthauens überdrüßig, setzte mich zu Pferde, überließ das Schiff seinem Schicksal, und sprengte geradezu auf den Nordpol los. Wo das Meer spiegelglatt gefroren war, hatte ich eine ganz treffliche Reitbahn, hie und da traf ich aber auch auf offene Stellen, und hier galt es nun, mit meinem Pferde geschickt von Eisscholle zu Eisscholle, von Eisberg zu Eisberg zu setzen. Denken Sie sich nun meinen Schreck, als einmal mein Pferd mitten im Sprunge einfror, so daß ich hoch in der Luft zwischen zwei gewaltigen Eisbergen schwebte, was wohl noch keinem Sterblichen wiederfahren ist. Glücklicherweise war auch die untere Luftschicht ganz dick und fest gefroren, so daß ich wenigstens vor der Gefahr eines tödtlichen Sturzes gesichert war. Lange Zeit hielt ich mich dadurch wach, daß ich von Zeit zu Zeit einige Tropfen Gubener Landwein auf Zucker zu mir nahm. Es wurde Nacht und diese Nacht wollte kein Ende nehmen; die Sterne schimmerten überaus hell, die Nordlichter knisterten und funkelten rings um mich her. Ich befand mich ganz in der Nähe des Nordpols, dieß erkannte ich daran, daß mehrere eiserne Instrumente, die ich mit mir führte, aus meinen Taschen und direkt auf den Nordpol zu sprangen, der sie magnetisch an sich riß. Mit Schaudern bemerkte ich, daß der Winter angebrochen war, der in diesen Regionen in einer sechs Monat dauernden Nacht besteht. Ich ergab mich in mein Schicksal, setzte mich zum Erfrieren möglichst bequem, stellte mein Brennglas gegen Osten auf, damit nach Ablauf der sechs Wintermonate die ersten Strahlen der Sonne auf mich fallen und einen allgemeinen Aufthauungsprozeß an Reiter und Pferd veranlassen möchten, schloß meine Augen – und erfror –.“
Bei diesen Worten zuckt Fritz Beutel zusammen und sitzt mit aufgesperrtem Munde und weit aufgerissenen Augen, starr und steif, wie ein Todter da.
Man drängt sich um ihn, man fragt was ihm fehle, ob ihn der Schlag getroffen; man holt Wasser herbei und will ihm die Schläfe damit waschen.
Plötzlich stößt Fritz Beutel mit lauter Stimme den Namen „Tombuktu!“ hervor, und wischt sich mit den Worten: „Welch wohlthätiger Schweiß!“ die Stirn, dann fährt er weiter fort:
„Meine Herren! die bloße Vorstellung, wie ich so in der Luft schwebend mit meinem Pferde erfror, brachte mich so eben dem Erfrieren nahe. Mit Gewalt versetzte ich mich daher in die Vorstellung der Aequatorialhitze von Tombuktu, ein kritischer Aequatorialschweiß brach sogleich aus allen Poren aus, und die Gefahr zu erfrieren war beseitigt.
Um indeß für heute der Gefahr eines Rückfalls zu entgehen, will ich mir die Beschreibung des Nordpols mit seinen zahlreichen Wundern auf einen andern Abend versparen, und erlaube mir noch, Ihnen einen Vorgeschmack von den Abenteuern zu verschaffen, welche ich in Tombuktu erlebte.“
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 1). Braun & Schneider, München 1845, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_1.djvu/160&oldid=- (Version vom 11.5.2019)